Die Chirurgin
Telefon an. Es beschämte ihn, wie rasch und widerstandslos er seinen Vorsatz wieder aufgegeben hatte. Er hatte sich selbst versprochen, dass er durchhalten würde, hatte Marquettes Forderung zugestimmt, dass er sich für die Dauer der Ermittlungen von Catherine fern halten würde. Wenn das hier ausgestanden ist, werde ich dafür sorgen, dass zwischen uns alles wieder ins Lot kommt.
Er blickte auf den Stapel Akten aus Atlanta auf seinem Schreibtisch. Es war elf Uhr abends, und er hatte noch nicht einmal angefangen. Mit einem Seufzer schlug er den ersten Aktenordner auf.
Die Akten im Fall von Dora Ciccone, Andrew Capras erstem Opfer, bildeten keine besonders appetitliche Lektüre. Er kannte bereits die wichtigsten Fakten; sie waren in Singers Abschlussbericht zusammengefasst. Aber Moore hatte die ursprünglichen Berichte aus Atlanta noch nicht gelesen, und jetzt machte er einen Zeitsprung in die Vergangenheit und nahm die früheste Arbeit von Andrew Capra unter die Lupe. Dort, in Atlanta, hatte alles angefangen.
Er las den Bericht über den Tathergang und arbeitete sich dann durch die Vernehmungsprotokolle. Er las die Aussagen der Nachbarn Ciccones, des Barkeepers der Kneipe, in der sie zuletzt lebend gesehen worden war, und der Freundin, die die Leiche entdeckt hatte. Er fand auch eine Liste von Verdächtigen mit den dazugehörigen Fotos; Capra war nicht darunter.
Dora Ciccone war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte an der Emory University studiert. Am Abend ihres Todes war sie zuletzt gegen Mitternacht gesehen worden, als sie im La Cantina eine Margarita getrunken hatte. Vierzig Stunden später war ihre Leiche in ihrer Wohnung entdeckt worden, nackt und mit einer Nylonschnur ans Bett gefesselt. Ihr Uterus war entfernt worden, und man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.
Er fand die von der Polizei erstellte Zeitschiene. Es war eigentlich nur ein grober Entwurf in einer kaum leserlichen Handschrift. Es schien, als habe der ermittelnde Detective in Atlanta sie nur angefertigt, um den Job auf irgendeiner internen Checkliste abhaken zu können. Er konnte fast den Geruch des Scheiterns riechen, der aus diesen Seiten aufstieg, konnte die depressive Stimmung aus der abfallenden Schrift des Detective herauslesen. Er hatte es am eigenen Leib erfahren, dieses lastende Gefühl in der Brust, wenn die ersten vierundzwanzig Stunden ergebnislos verstreichen, dann eine ganze Woche, dann ein Monat, und man immer noch keine greifbaren Hinweise hat. Genau das hatte der Detective in Atlanta gehabt: gar nichts. Dora Ciccones Mörder war ein unbekanntes Subjekt geblieben.
Er schlug den Autopsiebericht auf.
Beim Abschlachten von Dora Ciccone war es weder so schnell noch so professionell zugegangen wie bei Capras späteren Morden. Die gezackten Wundränder verrieten, dass Capra zu unsicher gewesen war, um einen einzigen sauberen Schnitt quer über das Abdomen zu führen. Stattdessen hatte er gezögert, hatte mehrmals neu angesetzt und dabei die Haut eingerissen. Nachdem er endlich die Bauchhöhle geöffnet hatte, war die Operation zu einem amateurhaften Gestochere ausgeartet, und beim Herausschneiden seiner Trophäe hatte er sowohl die Blase als auch den Darm mit seinem Skalpell tief eingeritzt. Bei diesem seinem ersten Opfer hatte er keinerlei Nahtmaterial benutzt, um irgendwelche Arterien abzubinden. Es war sehr viel Blut geflossen, und Capra musste schließlich blind gearbeitet haben, nachdem alle anatomischen Orientierungspunkte in einem immer tiefer werdenden roten See versunken waren.
Nur der Gnadenstreich war einigermaßen geschickt vollführt worden – ein einziger sauberer Schnitt von links nach rechts. Es schien, als hätte er sich nun, nachdem sein Hunger gestillt war und seine Raserei sich gelegt hatte, wieder so weit unter Kontrolle gehabt, dass er den Job kühl und effizient zu Ende führen konnte.
Moore legte den Autopsiebericht beiseite, und dabei fiel sein Blick auf die Reste seines Abendessens, das auf einem Tablett neben ihm stand. Plötzlich wurde ihm komisch im Magen, und er trug das Tablett zur Tür und stellte es draußen im Flur auf den Boden. Dann kehrte er zum Schreibtisch zurück und schlug den nächsten Ordner auf, der die Laborberichte enthielt.
Zuerst stieß er auf die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchung: Vaginalabstrich des Opfers wies Spermatozoen auf.
Er wusste, dass die DNS-Analyse später bestätigt hatte, dass es sich um Capras Sperma handelte. Er hatte Dora Ciccone
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