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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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nach Mitternacht, und alle Gesichter, die sie um den Tisch herum erblickte, waren fahl, die Mienen mutlos. Rizzoli stand außerhalb dieses Kreises, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Die unsichtbare Frau, die niemand wahrnahm, der man gestattete zuzuhören, nicht aber teilzunehmen. Zu Verwaltungsarbeit verdonnert, ihrer Dienstwaffe beraubt, war sie wenig mehr als eine passive Beobachterin – und das bei einem Fall, mit dem sie vertrauter war als irgendjemand an diesem Tisch.
    Moore hob den Kopf und blickte in ihre Richtung, doch er schaute sie nicht an – sein Blick ging durch sie hindurch. Als ob er ihr nicht in die Augen sehen wollte.
    Dr. Zucker fasste zusammen, was sie über Warren Hoyt in Erfahrung gebracht hatten. Über den Chirurgen.
    »Er hat lange auf dieses eine Ziel hingearbeitet«, sagte Zucker. »Jetzt, da er es erreicht hat, wird er sein Vergnügen so lange wie möglich ausdehnen wollen.«
    »Dann war also Cordell von Anfang an sein Ziel?« fragte Frost. »Und mit den anderen Opfern – hat er nur geübt?«
    »Nein, sie haben ihm auch Lust verschafft. Sie haben ihm geholfen, die Wartezeit zu überstehen, sich sexuelle Erleichterung zu verschaffen, während er an seinem großen Coup arbeitete. Jedes Raubtier empfindet eine umso größere Erregung, je schwieriger die Beute zu fangen ist, der er nachstellt. Und Cordell war wahrscheinlich die eine Frau, an die er nicht so leicht herankam. Sie war immer auf der Hut, hielt sich stets strikt an die Vorsichtsmaßnahmen. Sie verbarrikadierte sich hinter Sicherheitsschlössern und Alarmanlagen. Sie vermied enge Beziehungen. Sie ging selten abends aus, außer wenn sie zur Arbeit ins Krankenhaus musste. Sie war die schwierigste Beute, die er verfolgen konnte, und zugleich die, die er am meisten begehrte. Er machte seine Jagd selbst noch schwieriger, indem er sie wissen ließ, dass sie seine Beute war. Terror und Einschüchterung waren Teil seines Spiels. Er wollte sie spüren lassen, wie er immer näher rückte. Die anderen Frauen waren für ihn nur Vorgeplänkel. Cordell war das Hauptereignis.«
    » Ist « , sagte Moore mit wutverzerrter Stimme. »Noch ist sie nicht tot.«
    Es war plötzlich ganz still im Raum. Niemand sah Moore an.
    Zucker nickte. Nichts konnte seine eisige Gelassenheit erschüttern. »Danke für die Berichtigung.«
    Marquette meldete sich zu Wort. »Haben Sie seine Akte gelesen?«
    »Ja«, sagte Zucker. »Warren war ein Einzelkind. Anscheinend ein sehr verhätscheltes Kind. Geboren in Houston, Vater Raketenwissenschaftler – das ist kein Witz. Seine Mutter entstammte einer alten Öldynastie. Sie leben beide nicht mehr. Warren war also mit gescheiten Genen und geerbtem Geld gesegnet. Es gibt keine Vorstrafen aus seiner Jugendzeit. Keine Festnahmen, keine Protokolle, nichts, was irgendwelche Alarmsignale ausgelöst hätte. Bis auf diesen einen Vorfall an der Universität, im Anatomielabor, kann ich keinerlei Warnzeichen entdecken. Keine Hinweise, die darauf deuten, dass er zum Mörder bestimmt war. Allen Berichten zufolge war er ein vollkommen normaler Junge. Höflich und zuverlässig.«
    »Durchschnittlich«, sagte Moore leise. »Gewöhnlich.«
    Zucker nickte. »Das ist ein Junge, der nie auffällig geworden ist, der nie Anlass zur Beunruhigung gegeben hat. Und das ist die erschreckendste Erscheinungsform des Killers überhaupt, denn es gibt keinen pathologischen Befund, keine psychiatrische Diagnose. Er ist wie Ted Bundy. Intelligent, in geordneten Verhältnissen lebend, und von außen betrachtet ein perfekt funktionierendes Mitglied der Gesellschaft. Nur eine Schrulle hat er: Es macht ihm Spaß, Frauen zu quälen. Er ist ein Mensch, dem Sie vielleicht jeden Tag auf der Arbeit begegnen. Und wenn er Sie anschaut, Sie anlächelt, würden Sie nie ahnen, dass er gerade über eine neue, kreative Methode nachdenkt, Ihnen die Eingeweide aus dem Leib zu reißen.«
    Der zischende Klang seiner Stimme ließ Rizzoli erbeben. Sie blickte sich im Raum um. Es ist wahr, was er sagt. Ich sehe Barry Frost jeden Tag. Er scheint ein netter Kerl zu sein. Glücklich verheiratet. Immer gut drauf. Aber ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf wirklich vor sich geht.
    Frost merkte, dass sie ihn anschaute, und lief rot an.
    Zucker fuhr fort. »Nach dem Vorfall an der Universität war Hoyt gezwungen, sein Medizinstudium abzubrechen. Er begann eine medizinisch-technische Ausbildung und folgte Andrew Capra nach Savannah. Es scheint, als habe ihre Partnerschaft über

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