Die Chirurgin
dass ihr Martyrium aufgeschoben war. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
Das also war sein Spiel. Den Schrecken zu verlängern, das Vergnügen auszudehnen. Vorläufig würde er sie am Leben lassen und ihr Zeit geben, sich seine nächsten Schritte auszumalen.
Jede Minute, die ich lebe, ist eine neue Chance, zu fliehen.
Die Wirkung des Chloroforms war verflogen, und sie war jetzt hellwach; ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, angetrieben von schierer Panik. Sie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf einem Bett mit Metallrahmen. Sie war nackt ausgezogen und an Händen und Füßen mit Klebeband an das Bettgestell gefesselt. Sie konnte an ihren Fesseln reißen und zerren, bis ihre Muskeln vor Erschöpfung zitterten, doch befreien konnte sie sich nicht. Vor zwei Jahren, in Savannah, hatte Capra eine Nylonschnur benutzt, um ihre Handgelenke zu fesseln, und es war ihr gelungen, eine Hand aus der Schlinge zu ziehen. Der Chirurg würde diesen Fehler nicht wiederholen.
Nass geschwitzt und zu müde, um sich weiter zu wehren, konzentrierte sie sich nun auf ihre Umgebung.
Über dem Bett hing eine einzelne nackte Glühbirne. Der Geruch nach Erde und feuchtem Mauerwerk verriet ihr, dass sie sich in einem Keller befand. Wenn sie den Kopf drehte, konnte sie am äußersten Rand des Lichtkegels der Glühbirne gerade eben die raue Oberfläche des gemauerten Fundaments erkennen.
Über ihr knarrten Schritte, und sie hörte das Schleifen von Stuhlbeinen. Ein Holzfußboden. Ein altes Haus. Oben wurde ein Fernseher eingeschaltet. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in dieses Zimmer gelangt war oder wie lange die Fahrt gedauert hatte. Sie waren möglicherweise viele Kilometer von Boston entfernt, an einem Ort, wo niemand nach ihr suchen würde.
Das Schimmern des Tabletts zog ihre Blicke an. Sie starrte auf das Sortiment von Instrumenten, die sorgfältig für die bevorstehende Prozedur zurechtgelegt worden waren. Unzählige Male hatte sie selbst solche Instrumente geführt, hatte in ihnen Werkzeuge der Heilung gesehen. Mit Skalpellen und Klemmen hatte sie Krebsgeschwüre und Geschosse herausgeschnitten, hatte Blutungen aus gerissenen Arterien gestillt und in Blut schwimmende Brusthöhlen trockengelegt. Jetzt blickte sie auf die Instrumente, die sie zur Rettung von Leben verwendet hatte, und sah die Werkzeuge ihres eigenen Todes. Er hatte sie direkt neben das Bett gelegt, damit sie sie in Ruhe betrachten konnte, damit sie über die rasiermesserscharfe Klinge des Skalpells, über die stählernen Zähne der Gefäßklemme nachsinnen konnte.
Keine Panik. Denk nach. Denk nach.
Sie schloss die Augen. Die Angst war wie eine lebendige Kreatur, die ihre Fangarme um ihren Hals schlang.
Du hast sie schon einmal besiegt. Du kannst es wieder schaffen.
Sie spürte, wie ein Tropfen an ihrer Brust herabrann und in die bereits schweißgetränkte Matratze sickerte. Es gab einen Ausweg. Es musste einen Ausweg geben, eine Möglichkeit, sich zu wehren. Die Alternative war so furchtbar, dass sie gar nicht daran denken durfte.
Sie öffnete die Augen, starrte die Glühbirne über dem Bett an und konzentrierte ihren Verstand, scharf wie ein Skalpell, auf den nächsten Schritt. Sie erinnerte sich an das, was Moore ihr gesagt hatte: dass der Chirurg von der Angst seiner Opfer lebte. Er griff Frauen an, die geschädigt waren, die bereits Opfer waren. Frauen, denen er sich überlegen fühlte.
Er wird mich erst töten, wenn er mich besiegt hat.
Sie holte tief Luft. Jetzt begriff sie, welches Spiel er spielte. Kämpfe gegen die Angst an. Lass deiner Wut freien Lauf. Zeig ihm, dass du dich nicht besiegen lässt, ganz gleich, was er tut.
Auch nicht im Angesicht des Todes.
24
Rizzoli schreckte aus dem Schlaf hoch, und der Schmerz fuhr ihr wie ein Messerstich in den Nacken. O Gott, nicht schon wieder ein gezerrter Muskel, dachte sie, während sie vorsichtig den Kopf hob und in das Sonnenlicht blinzelte, das durch das Bürofenster fiel. Alle anderen Computerarbeitsplätze um sie herum waren verlassen. Irgendwann gegen sechs Uhr hatte sie erschöpft den Kopf auf den Tisch sinken lassen und sich geschworen, dass sie nur ein kurzes Nickerchen machen würde. Jetzt war es halb zehn. Der Stapel Computerausdrucke, den sie als Kopfkissen benutzt hatte, war feucht von Speichel.
Sie warf einen Blick auf Frosts Arbeitsplatz und sah, dass seine Jacke über der Stuhllehne hing. Auf Crowes Schreibtisch stand eine Donut-Tüte. Ihre Kollegen waren
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