Die Chirurgin
Die Vorhänge sind alle zugezogen, doch der Stoff ist dünn, und ich kann sehen, wie sie sich drinnen bewegt. Ihre Silhouette ist geduckt, sie hat die Arme an die Brust gepresst; es sieht aus, als habe sie sich wie ein Igel zusammengerollt. Sie geht im Zimmer auf und ab, mit eckigen, mechanischen Bewegungen.
Sie überprüft die Schlösser an den Türen, die Fensterriegel. Versucht sich gegen die Dunkelheit abzuschotten.
Es muss drückend heiß sein in dem kleinen Haus. Heute Nacht ist es schwül wie in einer Sauna, und in ihren Fenstern ist keine Klimaanlage zu erkennen. Den ganzen Abend ist sie drin geblieben und hat trotz der Hitze alle Fenster geschlossen gehalten. Ich stelle mir vor, wie sie mit schweißglänzender Haut ausharrt, den ganzen langen, heißen Tag hindurch bis in die Nacht hinein. Sie würde liebend gerne etwas frische Luft hereinlassen, aber sie fürchtet sich vor dem, was sie sonst noch hereinlassen könnte.
Wieder geht sie am Fenster vorbei. Bleibt stehen. Verweilt dort, eingerahmt von dem Rechteck aus Licht. Plötzlich teilt sich der Vorhang, sie greift mit der Hand hindurch, um das Fenster zu entriegeln. Sie schiebt es hoch. Steht davor und atmet in gierigen Zügen die frische Luft ein. Sie hat endlich doch vor der Hitze die Waffen gestreckt.
Nichts erregt den Jäger so wie die Witterung der verwundeten Beute. Ich kann ihn fast riechen, den Duft der blutenden Kreatur, der mir entgegenweht, den Geruch des befleckten Fleisches. So wie sie die Nachtluft einatmet, atme ich ihren Geruch ein. Ihre Angst.
Mein Herz schlägt schneller. Ich greife in meine Tasche und betaste zärtlich die Instrumente. Selbst der Stahl fühlt sich warm an in meiner Hand.
Sie schließt das Fenster mit einem Knall. Ein paar Züge frischer Luft, mehr hat sie sich nicht zu gönnen gewagt. Und jetzt zieht sie sich in ihre erbärmliche kleine Welt zurück, die nur noch aus diesem stickigen Häuschen besteht.
Nach einer Weile akzeptiere ich die Enttäuschung und verlasse den Ort; lasse sie für den Rest der Nacht in dem Backofen schwitzen, den sie ihr Schlafzimmer nennt.
Morgen, so hört man, soll es noch heißer werden.
5
»Der Gesuchte ist ein klassischer Piqueurist«, sagte Dr. Lawrence Zucker. »Jemand, der ein Messer benutzt, um sekundäre oder indirekte sexuelle Befriedigung zu erlangen. Piqueurismus ist der Akt des Stechens oder Schneidens, jegliche Art von wiederholter Penetration der Haut mit einem spitzen Gegenstand. Das Messer ist ein Phallussymbol – ein Ersatz für das männliche Geschlechtsorgan. Unser unbekannter Täter kann durch normalen Geschlechtsverkehr keine Befriedigung erlangen, sondern nur, indem er seinem Opfer Schmerzen zufügt und es in Todesangst versetzt. Es ist die Macht, die ihm einen Kitzel verschafft. Die ultimative Macht, die Herrschaft über Leben und Tod.«
Detective Jane Rizzoli ließ sich nicht leicht Angst einjagen, aber Dr. Zucker war ihr nicht ganz geheuer. Er sah aus wie ein blasser, hünenhafter John Malkovich, und seine Stimme war säuselnd, fast feminin. Während er sprach, bewegten sich seine Finger mit schlangengleicher Eleganz. Er war kein Polizist, sondern ein Kriminalpsychologe von der Northwestern University, der als Gutachter für das Boston Police Department arbeitete. Rizzoli hatte schon einmal bei einem Mordfall mit ihm zu tun gehabt, und damals war er ihr auch nicht ganz geheuer gewesen. Es war nicht nur seine äußere Erscheinung, sondern vor allem die Art und Weise, wie er sich tiefer und tiefer in die Gehirnwindungen des Täters einschlich, und das offensichtliche Vergnügen, das ihm die Streifzüge durch diese teuflischen Dimensionen bereiteten. Die Reise machte ihm regelrecht Spaß. Sie konnte die unterschwellige Erregung in seiner Stimme hören.
Sie sah sich in dem Besprechungszimmer um und fragte sich, ob dieser Sonderling den vier übrigen Detectives ebenso unheimlich vorkam wie ihr. Doch alles, was sie sah, waren erschöpfte Gesichter, deren Kinnpartien mehr und mehr unrasiert wirkten.
Sie waren alle müde. Sie selbst hatte letzte Nacht kaum vier Stunden geschlafen. Noch vor Morgengrauen war sie aufgewacht, und in der Dunkelheit hatte ihr Gehirn sofort den vierten Gang eingelegt und ein ganzes Kaleidoskop von Bildern und Stimmen zu verarbeiten versucht. Sie hatte den Fall Elena Ortiz so tief in ihr Unterbewusstsein einsinken lassen, dass sie sich im Traum mit dem Opfer unterhalten hatte; allerdings war es ein ziemlich unsinniges Gespräch gewesen. Es
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