Die Chirurgin
unterdrücken. Immer wieder war ohne Vorwarnung das eine oder andere Bild aus ihrer Erinnerung aufgetaucht, scharf wie eine Messerschneide, aber sie war diesen Bildern geschickt ausgewichen und hatte es stets verstanden, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Heute aber konnte sie sich den Erinnerungen nicht entziehen. Heute konnte sie nicht so tun, als wäre Savannah nie geschehen.
Die Küchenfliesen waren kühl unter ihren nackten Fußsohlen. Sie mixte sich einen Screwdriver mit wenig Wodka und nippte daran, während sie Parmesan rieb, Tomaten und Zwiebeln schnitt und Kräuter hackte. Sie hatte seit dem Frühstück noch nichts gegessen, und der Alkohol wurde direkt in ihren Blutkreislauf geschwemmt. Die Wirkung des Wodkas war angenehm betäubend. Dazu das stete Klopfen des Küchenmessers auf dem Schneidebrett, der Duft von frischem Basilikum und Knoblauch – all das empfand sie als tröstlich und beruhigend. Kochen als Therapie.
Jenseits ihres Küchenfensters lag der überhitzte Hexenkessel Boston, angefüllt mit Autos, die im Stau standen, und Menschen, denen die Nerven durchgingen, doch hier war sie, abgeschottet hinter der Fensterscheibe, und sautierte in aller Ruhe die Tomaten in Olivenöl, goss sich ein Glas Chianti ein und setzte Wasser für die Capelli d’Angelo auf. Aus der Klimaanlage strömte zischend kühle Luft.
Sie setzte sich mit ihrer Pasta, dem Salat und dem Wein an den Tisch und aß zu den Klängen von Debussy aus ihrem CD-Player. Trotz ihres Hungers und der Sorgfalt, mit der sie ihre Mahlzeit zubereitet hatte, schmeckte alles plötzlich fade. Sie zwang sich weiterzuessen, doch ihre Kehle fühlte sich so beengt an, als hätte sie irgendeine zähe, klebrige Substanz verschluckt. Auch mit einem zweiten Glas Wein gelang es ihr nicht, den Brocken in ihrem Hals herunterzuspülen. Sie legte die Gabel hin und starrte auf ihre halb gegessene Mahlzeit herab. Die Musik schwoll an und spülte wie Meereswellen über sie hinweg.
Sie ließ ihr Gesicht in die Hände sinken. Zuerst blieb sie ganz still. Es schien, als habe sie ihren Kummer so lange in sich eingeschlossen, dass nichts das erstarrte Siegel aufzubrechen vermochte. Dann entwich ihrer Kehle ein hoher, klagender Laut, ein dünner, kaum hörbarer Ton. Sie schnappte nach Luft, und ein Schrei brach aus ihr hervor, in dem sich der ganze aufgestaute Schmerz von zwei Jahren Luft machte. Die Heftigkeit ihres Gefühlsausbruchs erschreckte sie – weil sie ihn nicht unterdrücken konnte und weil sie nicht ermessen konnte, wie tief ihr Schmerz reichte und ob er je ein Ende finden würde. Sie weinte und schrie, bis ihr der Hals wehtat, bis ihre Lungen sich in krampfhaften Stößen dehnten und zusammenzogen und ihr Schluchzen in der hermetisch versiegelten Festung ihrer Wohnung widerhallte.
Endlich, nachdem sie keine Tränen mehr übrig hatte, legte sie sich auf die Couch und fiel augenblicklich in einen tiefen, erschöpften Schlaf.
Sie wachte mit einem Ruck auf und fand sich in völliger Dunkelheit. Ihr Herz hämmerte, ihre Bluse war schweißnass. War da ein Laut gewesen? Das Klirren von Glas, Schritte? War es das, was sie aus ihrem Tiefschlaf gerissen hatte? Sie wagte nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen, aus Angst, die Geräusche zu überhören, mit denen der Eindringling sich verriet.
Durch das Fenster fiel ein wandernder Lichtstrahl – die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos. Ihr Wohnzimmer wurde für kurze Zeit hell und versank dann wieder in der Dunkelheit. Sie lauschte auf das Zischen der Klimaanlage, das Brummen des Kühlschranks in der Küche. Nichts Fremdes. Nichts, was dieses überwältigende Gefühl der Furcht hätte auslösen können.
Sie setzte sich auf, nahm ihren Mut zusammen und schaltete die Lampe ein. Die eingebildeten Schreckensvisionen verschwanden augenblicklich im warmen Schein des Lichts. Sie erhob sich von der Couch und ging bewusst von Zimmer zu Zimmer, schaltete das Licht ein, schaute in die Schränke. Auf der rationalen Ebene wusste sie sehr wohl, dass kein Eindringling da war, dass ihr Haus mit dem ausgeklügelten Alarmsystem, den Sicherheitsschlössern und den fest verriegelten Fenstern so gut gesichert war, wie man es sich nur wünschen konnte. Aber sie hatte keine Ruhe, bis sie dieses Ritual vollendet und jeden finsteren Winkel abgesucht hatte. Erst nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihren Sicherheitskordon durchbrochen hatte, gestattete sie sich wieder, ruhig zu atmen.
Es war halb
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