Die Chirurgin
elf. Mittwochabend. Ich muss mit jemandem reden. Heute Abend werde ich nicht allein damit fertig.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, fuhr den PC hoch und sah zu, wie das Bild auf dem Monitor aufflackerte. Dies war ihr Rettungsanker, ihr Therapeut, dieses Bündel von Elektronik und Drähten und Plastik; der einzige sichere Ort, wo sie all ihren Kummer und Schmerz abladen konnte.
Sie tippte ihren Screen Name, CCORD, ein, ging ins Internet, und nach wenigen Mausklicks und dem Eintippen einiger Wörter hatte sie auch schon den Weg in den privaten Chatroom gefunden, der den schlichten Namen womanhelp trug.
Ein halbes Dutzend vertraute Screen-Names waren schon da. Gesichtslose, namenlose Frauen, die es alle zu dieser sicheren, anonymen Zufluchtsstätte im Cyberspace getrieben hatte. Eine Weile saß sie nur da und las die Nachrichten, die über den Computerbildschirm rollten; glaubte die verletzten Stimmen von Frauen zu hören, denen sie außerhalb dieses virtuellen Raumes nie begegnet war.
LAURIE 45: Und was hast du dann gemacht?
VOTIVE: Ich habe ihm gesagt, ich bin noch nicht so weit. Ich hatte immer noch diese Momente, wo alles wieder hochkam. Ich habe ihm gesagt, wenn er mich wirklich gern hätte, würde er warten.
HBREAKER: So ist’s richtig.
WINKY 98: Lass dich nicht von ihm unter Druck setzen.
LAURIE 45: Wie hat er reagiert?
VOTIVE: Er hat bloß gesagt, ich müsste DARÜBER HINWEGKOMMEN. Als ob ich ein Weichei wäre oder so.
WINKY 98: Die Männer sollten selber mal vergewaltigt werden!!!
HBREAKER: Ich hab zwei Jahre gebraucht, bis ich so weit war.
LAURIE 45: Und ich über ein Jahr.
WINKY 98: Diese Typen können doch an nichts anderes denken als an ihre Schwänze. Immer geht es nur um sie. Sie wollen bloß, dass man ihr DING befriedigt.
LAURIE 45. Aua. Du bist aber ganz schön stinkig heute Abend, Wink.
WINKY 98. Vielleicht. Manchmal denke ich, Lorena Bobbitt hatte gar nicht die schlechteste Idee.
HBREAKER: Wink packt ihr Hackebeil aus!
VOTIVE: Ich glaube nicht, dass er bereit ist zu warten. Ich glaube, er hat mich schon aufgegeben.
WINKY 98: Du bist es wert, dass man auf dich wartet. Du BIST ES WERT!
Ein paar Sekunden verstrichen, in denen das Schriftfenster leer blieb. Und dann:
LAURIE 45: Hallo, CCord. Schön, dass du wieder bei uns bist.
Catherine schrieb.
CCORD: Wie ich sehe, reden wir mal wieder über Männer.
LAURIE 45: Ja. Woran liegt es bloß, dass wir nie von diesem abgedroschenen Thema loskommen?
VOTIVE: Weil sie diejenigen sind, die uns wehtun.
Wieder entstand eine lange Pause. Catherine holte tief Luft und schrieb:
CCORD: Ich hatte einen schlechten Tag.
LAURIE 45: Erzähl es uns, CC. Was ist passiert?
Catherine konnte beinahe das Gurren von weiblichen Stimmen hören, das sanfte, beruhigende Gemurmel, das den Äther erfüllte.
CCORD: Heute Abend hatte ich eine Panikattacke. Ich bin hier in meinem Haus, hinter verschlossenen Türen, wo niemand an mich rankommt – und trotzdem passiert es noch.
WINKY 98: Lass ihn nicht gewinnen. Lass nicht zu, dass er dich zu einer Gefangenen macht.
CCORD: Es ist zu spät. Ich bin eine Gefangene. Weil mir heute Abend eine schreckliche Erkenntnis gekommen ist.
WINKY 98: Welche denn?
CCORD: Das Böse stirbt nicht. Es stirbt nie. Es legt sich nur ein neues Gesicht zu, einen neuen Namen. Dass es uns einmal angegriffen hat, bedeutet nicht, dass wir in Zukunft davor gefeit sind, dass uns jemand wehtut. Der Blitz kann zweimal an derselben Stelle einschlagen.
Niemand schrieb irgendetwas. Niemand antwortete.
Ganz gleich, wie gut wir aufpassen, das Böse weiß, wo wir wohnen, dachte sie. Es weiß, wie es uns finden kann.
Ein Schweißtropfen rann ihr den Rücken herunter.
Und ich spüre es in diesem Augenblick. Es kommt näher.
Nina Peyton geht nirgendwo hin, trifft sich mit keinem Menschen. Sie ist seit Wochen nicht mehr zur Arbeit gegangen. Heute habe ich in ihrem Büro in Brookline angerufen, wo sie in der Verkaufsabteilung arbeitet, und ihre Kollegin hat mir gesagt, sie wisse nicht, wann sie wieder zu ihnen stoßen würde. Sie ist wie ein waidwundes Tier, das sich in seine Höhle verkrochen und panische Angst hat, auch nur einen Schritt in die Nacht hinaus zu tun. Sie weiß, was die Nacht für sie bereithält, denn sie hat das Böse zu spüren bekommen, das mit der Dunkelheit kommt, und auch jetzt, in diesem Augenblick, hat sie das Gefühl, dass es wie ein übler Dunst durch die Wände ihres Hauses dringt.
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