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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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der Dienst habenden Schwester: »Ich warte immer noch auf Gwadowskis Medikamente. Könntest du noch mal in der Apotheke anrufen?«
     
    »Hast du auf dem Apothekenwagen nachgesehen? Er ist um neun hochgekommen.«
    »Da war nichts für Gwadowski drauf. Er braucht sofort seine intravenöse Dosis Tazobac.«
    »Ach, gerade fällt’s mir ein.« Die Stationsschwester stand auf und ging zur anderen Theke hinüber, auf der ein Korb für Eingänge stand. »Ein Bote von 4 West hat es gerade vorhin gebracht.«
    »4 West?«
    »Der Beutel ist in die falsche Etage geschickt worden.«
    Die Stationsschwester überprüfte den Aufdruck. »Gwadowski, 521 A.«
    »Richtig«, sagte Angela und nahm den kleinen Infusionsbeutel an sich. Auf dem Weg zurück zum Krankenzimmer las sie das Etikett, um sicherzugehen, dass der Name des Patienten stimmte, ebenso wie die Angabe zum behandelnden Arzt sowie die Dosis Tazobac, die dem Beutel Kochsalzlösung hinzugefügt worden war. Alles schien seine Richtigkeit zu haben. Vor achtzehn Jahren, als Angela frisch von der Schwesternschule gekommen war, hatte eine Krankenschwester noch einfach in den Vorratsraum der Station spazieren, sich einen Beutel mit Infusionsflüssigkeit schnappen und die nötigen Medikamente selbst hinzufügen können. Ein paar Fehler, begangen von überforderten Schwestern, und ein paar Prozesse, über die in den Medien ausführlich berichtet worden war, hatten das gründlich geändert. Heute musste selbst ein harmloser Infusionsbeutel mit Kochsalzlösung und einer Beigabe von Kalium direkt aus der Krankenhausapotheke kommen. Es bedeutete zusätzlichen Verwaltungsaufwand, ein weiteres Rädchen in der ohnehin schon komplizierten Maschinerie des Gesundheitswesens, und Angela ärgerte sich darüber. Das System war schuld daran, dass die Infusion ihren Patienten erst mit einstündiger Verspätung erreichte.
    Sie schloss Mr. Gwadowskis Infusionsschlauch an den neuen Beutel an und hängte diesen an die Stange. Während der ganzen Prozedur lag Mr. Gwadowski reglos da. Er war nun seit zwei Wochen im Koma und strömte bereits den Geruch des Todes aus. Angela war lange genug Krankenschwester, um ihn genau zu kennen, diesen an sauren Schweiß erinnernden Geruch, der den letzten Akt des Dramas ankündigte. Wann immer sie diesen Geruch bemerkte, flüsterte sie den anderen Schwestern zu: »Der da wird es nicht mehr lange machen.« Und genau das dachte sie jetzt, während sie die Tropfgeschwindigkeit einstellte und die Messwerte des Patienten überprüfte. Der da wird es nicht mehr lange machen. Trotzdem erledigte sie ihre Aufgaben mit der gleichen Sorgfalt, die sie allen anderen Patienten angedeihen ließ.
    Es war Zeit für die Ganzkörperwaschung. Sie trug eine Schüssel mit warmem Wasser zum Bett, tränkte einen Waschlappen damit und begann Mr. Gwadowskis Gesicht zu waschen. Er lag mit offenem Mund da, seine Zunge war trocken und gefurcht. Wenn sie ihn doch nur gehen lassen könnten. Wenn sie ihn doch nur aus dieser Hölle erlösen könnten. Aber der Sohn gestattete noch nicht einmal eine Änderung des Behandlungsstatus, und so lebte der alte Mann weiter, wenn man das noch Leben nennen konnte, dieses Schlagen des Herzens in der verfallenden Hülle des Körpers.
    Sie zog den Krankenhauskittel des Patienten beiseite und sah sich die Haut um den zentralen Venenzugang herum an. Die Wunde war leicht gerötet, was ihr Sorgen bereitete. An den Armen hatten sie keine Infusionsstellen mehr finden können. Dies war nun der einzige verbliebene Zugang, und Angela achtete gewissenhaft darauf, die Wunde sauber und den Verband frisch zu halten. Nach dem Waschen würde sie den Verbandmull wechseln.
    Sie wusch den Rumpf, fuhr mit dem Lappen über die Brust mit den sich scharf abzeichnenden Rippenbögen. Sie konnte sehen, dass er nie ein sehr muskulöser Mann gewesen war, doch was jetzt von seinem Brustkorb übrig war, das war nur noch über Knochen gespanntes Pergament.
    Sie hörte Schritte, und ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen, als sie Mr. Gwadowskis Sohn eintreten sah. Mit einem einzigen Blick drängte er sie in die Defensive. Er war eben dieser Typ Mann – immer darauf bedacht, Fehler und Mängel bei anderen herauszustreichen. So ging er auch oft mit seiner Schwester um. Einmal hatte Angela gehört, wie sie sich stritten, und hatte sich beherrschen müssen, um nicht ihre Partei zu ergreifen. Schließlich stand es Angela nicht an, diesem Sohn zu sagen, was sie von seiner Einschüchterungstaktik

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