Die Chirurgin
Mutter.
Rizzoli band ihre Schürze auf und warf sie auf den Tisch.
»Das ist mein Job, Ma! Warum zum Teufel fällt es euch so schwer, das anzuerkennen?« Sie schnappte den Telefonhörer von der Küchenwand und hämmerte Barry Frosts Handynummer in die Tasten.
Er meldete sich nach dem ersten Läuten.
»Ich bin’s«, sagte sie. »Ich habe gerade erst die Nachricht bekommen, dass ich zurückrufen soll.«
»Du wirst den Zugriff verpassen.«
»Was?«
»Wir haben einen Treffer bei der DNS aus dem Peyton-Fall.«
»Du meinst das Sperma? Die DNS ist in CODIS registriert?«
»Sie passt auf einen Täter namens Karl Pacheco. Verhaftet 1997, angeklagt wegen sexueller Nötigung, aber freigesprochen. Er behauptete, es sei einvernehmlich gewesen. Die Geschworenen haben ihm geglaubt.«
»Er hat Nina Peyton vergewaltigt?«
»Und wir haben die DNS als Beweis.«
Sie stieß triumphierend die Faust in die Luft. »Wie ist die Adresse?«
»4578 Columbus Avenue. Das Team ist schon fast vollzählig dort versammelt.«
»Ich bin unterwegs.«
Sie stürmte schon aus der Küche, als ihre Mutter rief: »Janie! Was ist denn mit dem Essen?«
»Muss los, Ma.«
»Aber heute ist Frankies letzter Abend!«
»Wir müssen jemanden verhaften.«
»Können die denn nicht ohne dich auskommen?«
Rizzoli verharrte mit der Hand an der Türklinke. Sie kochte innerlich, stand bedenklich kurz vor der Explosion. Und zugleich erkannte sie eines mit verblüffender Klarheit: Ganz gleich, was sie erreichen mochte oder wie glänzend ihre Karriere verlief, dieser eine Moment würde immer ihre Wirklichkeit darstellen: Janie, die unbedeutende Schwester. Das Mädchen.
Wortlos verließ sie die Küche und schlug die Tür hinter sich zu.
Die Columbus Avenue lag am nördlichen Ende von Roxbury, mitten im Jagdgebiet des Chirurgen. Weiter südlich war Jamaica Plain, wo Nina Peyton gelebt hatte. Elena Ortiz’ Wohnung lag im Südosten, und im Nordosten die Back Bay mit den Wohnungen von Diana Sterling und Catherine Cordell. Im Vorbeifahren erblickte Rizzoli Straßen mit Alleebäumen, die Backsteinhäuser eines Viertels, das von den Studierenden und dem Personal der nahe gelegenen Northeastern University bevölkert war. Jede Menge Studentinnen.
Jede Menge lohnende Beute.
Die Ampel vor ihr sprang auf Gelb. Das Adrenalin schoss durch ihre Adern, während sie das Gaspedal bis zum Boden durchdrückte und über die Kreuzung raste. Die Ehre dieser Festnahme gebührte ihr. Wochenlang hatte Rizzoli nur in Gedanken an den Chirurgen gelebt und geatmet, hatte sogar von ihm geträumt. Er hatte jeden Augenblick ihres Lebens durchdrungen, im Wachen wie im Schlaf. Niemand hatte härter daran gearbeitet, ihn zu fassen, und jetzt fand sie sich in einem Wettlauf um den Lohn ihrer Mühen.
Einen Block vor Karl Pachecos Adresse hielt sie mit quietschenden Reifen hinter einem Streifenwagen. Vier weitere Einsatzfahrzeuge parkten kreuz und quer entlang der Straße.
Zu spät, dachte sie, als sie auf das Gebäude zurannte. Sie sind schon drin.
Aus dem Haus hörte sie Schritte und die Rufe von Männern, die im Treppenhaus hallten. Sie folgte dem Lärm bis in den ersten Stock und betrat Karl Pachecos Wohnung.
Dort bot sich ihr ein chaotischer Anblick. Holzsplitter von der aufgebrochenen Tür lagen über der Schwelle verstreut. Stühle waren umgestoßen worden, eine Lampe lag in Scherben; es sah aus, als sei eine Horde wilder Bullen durch die Wohnung getrampelt und habe eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Die Luft war wie mit Testosteron verseucht, ausgeströmt von wildwütigen Polizisten auf der Hatz nach einem Verbrecher, der vor wenigen Tagen einen der ihren abgeschlachtet hatte.
Auf dem Boden lag ein Mann mit dem Gesicht nach unten. Er war schwarz – nicht der Chirurg. Crowe drückte dem Farbigen brutal die Schuhsohle in den Nacken.
»Ich habe dich was gefragt, du Schwein!«, brüllte Crowe.
»Wo ist Pacheco?«
Der Mann winselte und machte den Fehler, den Kopf heben zu wollen. Crowe stieß mit dem Absatz zu, und das Kinn des Mannes krachte auf den Fußboden. Er stieß einen erstickten Laut aus und begann um sich zu schlagen.
»Lass ihn los!«, schrie Rizzoli.
»Er will einfach nicht stillhalten!«
»Geh von ihm runter, dann redet er vielleicht mit dir!«
Rizzoli stieß Crowe zur Seite. Der Festgenommene rollte auf den Rücken und schnappte wie ein gestrandeter Fisch.
»Wo ist Pacheco?«, schrie Crowe.
»Ich – ich weiß es nicht …«
»Sie sind doch in
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