Die Chorknaben
führte die zwei Polizisten zum Lift, mit dem sie zum einundzwanzigsten Stock hochfuhren, wo die junge Frau auf dem Fenstersims des Büros saß, in dem sie arbeitete. Ihre Beine baumelten entspannt über dem Abgrund, und sie blickte neugierig auf die Menge unter ihr hinab. In der Ferne ertönte das Heulen der Sirene eines Noteinsatzwagens der Feuerwehr, der drei Blocks weiter im Abendverkehr auf dem Wilshire Boulevard festsaß.
»Kommen Sie mir nicht in die Nähe«, warnte das Mädchen gelassen. Der Wind blies ihr das feine Haar flatternd um die kleinen Ohren, als die zwei Polizisten vom Flur in das Büro gestürzt kamen.
»Gehen Sie wieder runter«, befahl Roscoe Homer Tilden, der sich die Brust hielt, als wäre er die einundzwanzig Stockwerke hochgerannt und nicht im Lift gefahren.
»Vielleicht …«
»Gehen Sie wieder runter, verdammt noch mal!« fuhr ihn Roscoe an. »Es werden noch mehr Leute kommen.«
Und während der Portier gehorchte stellte sich Roscoe Rules bereits das Foto und die Schlagzeile in der nächsten Ausgabe der Los Angeles Times vor, wenn es ihm gelingen würde, die hübsche Selbstmörderin am Springen zu hindern. Sie war sehr hübsch und mit Sicherheit für ein Foto auf der zweiten Seite gut – zusammen mit ihrem Retter, versteht sich.
»Jetzt hören Sie mal, Miß«, begann Roscoe und trat einen Schritt vor. Aber das Mädchen rückte dem Abgrund nur noch näher, so daß Roscoe mitten in der Bewegung erstarrte.
»Vielleicht sollten wir sie lieber in Ruhe lassen, Partner«, flüsterte Dean und sah in diesem Moment wesentlich jünger als fünfundzwanzig aus. Seine Sommersprossen schimmerten unter Strömen von Schweiß.
»Nichts da«, zischte Roscoe zurück. »Die Kleine hat doch 'ne Meise. Mit der werde ich schon fertig.« Und dann fuhr er, an das Mädchen gewandt, fort: »Kommen Sie doch wieder rein. So schlimm wird's schon nicht sein. Jetzt überlegen Sie sich die Sache doch erst noch mal.« Er sagte das leichthin, mit einem Grinsen auf den Lippen, und trat auf sie zu. Das Mädchen gebot ihm jedoch neuerlich Einhalt, indem es weiter nach vorn rutschte und nun wirklich nur noch am äußersten Rand des Fenstersimses balancierte. Ihre zierliche Gestalt hob sich deutlich gegen den dunstigen Nachthimmel ab.
»Nein!« stöhnte Dean auf. »Bitte nicht, Miß! Halt, nicht mehr weiter! Los, Partner, gehen wir wieder nach unten und lassen der Dame Zeit zum Überlegen.« Aber Roscoe Rules sah bereits einen Artikel in der Times und einen Orden den Bach hinunterschwimmen, so daß er es auf eine andere Tour versuchte. Charles Laughton oder sonst irgend so ein Kerl hatte damit in einem alten Film einmal Erfolg gehabt.
»Na gut, dann machen Sie schon!« provozierte er das Mädchen.
»Inzwischen sind doch genügend Zuschauer da. Schließlich ist es Ihr Leben. Wenn es Ihnen schon nichts mehr wert ist, was sollen wir uns dann einen Dreck darum kümmern. Machen Sie doch endlich, junge Frau. Wir können hier nicht die ganze Nacht rumstehen und Ihnen schön tun. Wir haben auch noch anderes zu tun. Also machen Sie doch endlich! Springen Sie!« Und das tat sie dann auch. Ohne ein Wort oder eine Träne sah sie Roscoe Rules und Dean Pratt an, und sie wandte ihre großen lila Augen auch keinen Moment von den beiden ab, als sie sich vom Fenstersims gleiten ließ und mit zehn Metern pro Sekunde, die Beine voraus, mit einem langgezogenen Schrei in die Tiefe stürzte.
Was von Melissa Monroe daraufhin noch übrig war, lag unter einer braunen Decke, als Dean Pratt auf dem Weg zu ihrem Streifenwagen an ihr vorbeistolperte.
»Laß mich das Protokoll aufnehmen, Partner.« Zum erstenmal glaubte Dean die Stimme Roscoes zittern zu hören, als er dies sagte.
Dann warf Wasmeinstdu-Dean einen Blick auf Melissa Monroe, und er erzählte später, es wäre gewesen, als hätte dem lieben Gott seine Nachspeise nicht geschmeckt, so daß er sie wütend in Richtung Ambassador Hotel geschleudert hätte. Da er es jedoch verfehlte, klatschte das Ganze auf den Gehsteig des Wilshire Boulevard. Schädel und Körper waren zerplatzt. Organe und Hirn besudelten das Pflaster. Sie war weiß und gelb und rosa, bedeckt mit einer klumpigen roten Soße und Sirup. Melissa Monroe war zu einem riesigen Himbeereis geworden. Für den Rest der schlimmsten aller Nächte seines Lebens war Dean Pratt sehr ruhig. Er dachte, sie wären fertig, als Roscoe Rules auf der Wache seinen 15,7-Bericht zu Ende geschrieben hatte – dieses unersetzbare polizeiliche
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