Die Chronik der Drachenlanze 3 + 4
liebender Sorge beobachtete, sah das magere metallische Gesicht seines Bruders leichenblaß werden. Raistlin schloß seine Augen und schluckte. Schließlich senkte er seinen Kopf.
»Ich nehme an.«
Caramon schrie vor Entsetzen auf, als sich Raistlins Robe, die rote Robe, die für Neutralität in der Welt stand, zu einem Tiefrot verdunkelte, sich dann in ein Blutrot verwandelte und dann noch dunkler wurde – bis zum Schwarz.
»Ich nehme an«, wiederholte Raistlin ruhiger, »unter der Bedingung, daß die Zukunft geändert werden kann. Was müssen wir tun?«
Er lauschte. Caramon umklammerte seinen Arm und stöhnte vor Schmerzen auf.
»Wie kommen wir lebend in den Turm?« fragte Raistlin seinen unsichtbaren Gesprächspartner.Wieder hörte er aufmerksam zu, dann nickte er. »Und ich werde das erhalten, was ich brauche? Nun gut. Dann leb wohl, falls so etwas für dich auf deiner dunklen Reise möglich ist.«
Raistlin erhob sich, seine schwarze Robe raschelte. Er ignorierte Caramons Schluchzen und Goldmonds verängstigtes Keuchen, als sie ihn sah, und machte sich auf die Suche nach Tanis. Er fand den Halb-Elf mit dem Rücken an einem Baum, gegen eine Schar von Elfenkriegern kämpfend.
Ruhig und gelassen griff Raistlin in seinen Beutel und holte ein Stück Hasenfell und eine Bernsteinspange hervor. Er rieb beide Gegenstände in seiner linken Handfläche, während er seine rechte Hand ausstreckte und sprach: »Ast kiranann kair Gadurm Soth-aran/Suh kali Jalaran.«
Aus seinen Fingerspitzen schossen Blitze durch die grüngetönte Luft und trafen die Elfenkrieger. Sie verschwanden.Tanis taumelte erschöpft zurück.
Raistlin stand mitten auf einer Lichtung zwischen den verzerrten und entstellten Bäumen.
»Kommt alle her!« befahl der Magier seinen Gefährten. Tanis zögerte. Elfenkrieger hielten sich am Rand der Lichtung auf. Sie wollten gerade angreifen, als Raistlin seine Hand hob. Sie hielten inne, als wären sie auf eine unsichtbare Mauer getroffen.
»Kommt näher zu mir.« Die Gefährten waren erstaunt, Raistlin sprechen zu hören, denn zum ersten Mal seit seinen Prüfungen sprach er mit seiner normalen Stimme. »Beeilt euch«, fügte er hinzu, »sie werden euch jetzt nicht angreifen. Sie fürchten sich vor mir. Aber ich kann sie nicht ewig aufhalten.«
Tanis trat heran, sein Gesicht war leichenblaß, Blut tropfte aus einer Wunde am Kopf. Goldmond half Caramon beim Gehen. Er umklammerte seinen blutenden Arm, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Langsam krochen die anderen Gefährten näher. Schließlich stand nur Sturm außerhalb des Kreises.
»Ich wußte es schon immer, daß es so weit kommen würde«, sagte der Ritter langsam. »Lieber sterbe ich, als mich unter deinen Schutz zu begeben, Raistlin.«
Und damit drehte sich der Ritter um und schritt tiefer in den Wald.Tanis sah den Anführer der untoten Elfen eine Geste machen, und einige aus seiner Gruppe folgten dem Ritter. Der Halb-Elf wollte hinterhergehen, aber hielt inne, als eine erstaunlich starke Hand seinen Arm ergriff.
»Laß ihn gehen«, sagte der Magier ernst, »oder wir sind alle verloren. Ich habe euch etwas mitzuteilen, und meine Zeit ist begrenzt.Wir müssen durch diesen Wald zum Sternenturm gelangen. Wir müssen den Weg der Toten begehen, denn jede gräßliche Kreatur, die jemals in den verzerrten, gequälten Träumen von Sterblichen erschienen ist, wird sich erheben, um uns aufzuhalten. Aber wisset – wir laufen in einem Traum , in Loracs Alptraum und in unseren Alpträumen. Visionen über die Zukunft können kommen, um uns zu helfen – oder uns zu behindern. Vergeßt nicht, daß unser Bewußtsein schläft, auch
wenn unser Körper wach ist. Der Tod existiert nur in unserem Bewußtsein – sofern wir nicht etwas anderes glauben.«
»Warum können wir dann nicht aufwachen?« fragte Tanis wütend.
»Weil Loracs Glaube im Traum so stark und unser Glaube zu schwach ist. Wenn du fest überzeugt bist, über jeden Zweifel hinaus, daß dies ein Traum ist, wirst du in die Wirklichkeit zurückkehren.«
»Wenn das stimmt«, sagte Tanis, »und du überzeugt bist, daß das ein Traum ist, warum erwachst du dann nicht?«
»Vielleicht«, sagte Raistlin lächelnd, »habe ich mich entschieden, es nicht zu tun.«
»Ich verstehe nicht!«Tanis weinte vor bitterer Enttäuschung.
»Du wirst es müssen«, sagte Raistlin grimmig voraus, »oder du wirst sterben.Wie auch immer, es spielt keine Rolle.«
Wachträume - Zukunftsvisionen
D ie entsetzten Blicke
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