Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
um sein Leben. Er glaubte gigantische Fußtritte zu hören, die hinter ihm aufschlugen. Er wagte nicht, sich umzudrehen. Visionen eines geifernden Monstrums trieben ihn weiter, bis sein Herz aus seinem Körper zu springen schien. Endlich erreichten sie das Ende der Straße.
Es war warm. Die Sonne schien.
Sie konnten die Stimmen von lebendigen Leuten in den Straßen hören. Flint hielt erschöpft inne und holte keuchend Luft. Ängstlich blickte er sich um, überrascht, zu sehen, daß die Straße immer noch leer war.
»Was war es?« brachte er mühselig hervor.
Das Gesicht des Kenders war leichenblaß. »E... ein T... Turm«, schluckte Tolpan prustend.
Flint riß seine Augen auf. »Ein Turm?« wiederholte der Zwerg. »Ich bin den ganzen Weg gerannt , hätte mich fast umgebracht, und ich bin vor einem Turm weggerannt! Ich glaube nicht«, Flints buschige Augenbrauen schoben sich beunruhigt zusammen, »daß dieser Turm dich gejagt hat.«
»N . . . nein«, gab Tolpan zu. »Er. . . er stand einfach da. Aber es war das Entsetzlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe«, bekannte der Kender feierlich mit einem Schaudern.
»Das war wohl der Turm der Erzmagier«, sagte der Herrscher von Palanthas zu Laurana an jenem Abend, als sie im Kartenraum des wunderschönen Palastes saßen, der auf einem Hügel mit Blick auf die Stadt errichtet worden war. »Kein Wunder, daß dein kleiner Freund so verängstigt war. Es überrascht mich, daß er es bis zum Eichenwald von Shoikan geschafft hat.«
»Er ist ein Kender«, erwiderte Laurana lächelnd.
»Ah ja. Das erklärt alles. Das habe ich nicht in Betracht gezogen. Man sollte Kender anheuern für die Arbeiten in den Häusern in der Nähe des Turms. Wir müssen unverschämt hohe Gehälter zahlen, damit Männer einmal im Jahr in diese Gebäude gehen, um sie instandzusetzen. Aber andererseits«, der Herrscher wirkte deprimiert, »ich glaube nicht, daß die Leute hier erfreut wären, eine größere Anzahl von Kendern in ihrer Stadt zu sehen.«
Amothud, Herrscher von Palanthas, wanderte über den polierten Marmorboden des Kartenraums. Laurana schritt neben ihm und versuchte, nicht auf den Saum des langen, fließenden Gewandes zu treten, das die Palanthianer ihr gegeben hatten. Sie waren reizend gewesen und hatten es ihr als Geschenk angeboten. Aber sie wußte, eigentlich waren sie schockiert, eine Prinzessin von Qualinesti in einer blutverschmierten, schlachtzerbeulten Rüstung herumlaufen zu sehen. Laurana blieb nichts anderes übrig, als es anzunehmen; sie konnte es sich nicht leisten, die Palanthianer zu beleidigen, auf deren Hilfe sie rechnete. Aber sie fühlte sich nackt, zerbrechlich und hilflos ohne Schwert und Rüstung.
Und sie wußte, daß die Generäle der palanthianischen Armee, die vorläufigen Befehlshaber der Solamnischen Ritter und die anderen Edelleute – Berater des Stadtsenats – diejenigen waren, die sie sich zerbrechlich und hilflos fühlen ließen. Jeder von ihnen erinnerte sie mit jedem Blick daran, daß sie nur eine Frau war, die Soldat spielte. Zugegeben, sie hatte es gut gemacht. Sie hatte ihren kleinen Krieg geführt, und sie hatte gewonnen. Jetzt – zurück in die Küche. . .
»Was ist der Turm der Erzmagier?« fragte Laurana unvermittelt.
Sie hatte nach einer Woche der Verhandlungen mit dem Herrscher von Palanthas gelernt, daß er zwar ein intelligenter Mann war, daß er aber dazu neigte, seine Gedanken in unergründliche Bereiche gleiten zu lassen, und ständiger Führung bedurfte, um beim Thema zu bleiben.
»Ach ja. Nun, du kannst ihn von diesem Fenster aus sehen, wenn du wirklich möchtest. . .«, sagte der Herrscher widerstrebend.
»Ich würde ihn gern sehen«, erwiderte Laurana kühl.
Mit einem Schulterzucken führte Herrscher Amothud Laurana zu einem Fenster, das ihr bereits aufgefallen war, da es mit dicken Vorhängen verdeckt war. Die Vorhänge der anderen Fenster waren aufgezogen und enthüllten einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt, gleichgültig, in welche Richtung man schaute.
»Ja, das ist der Grund, warum ich die Vorhänge geschlossen halte«, antwortete der Herrscher mit einem Seufzen auf Lauranas Frage. »Eine Schande. Hier hatte man einst die wundervollste Aussicht auf die Stadt, wie aus den alten Aufzeichnungen ersichtlich ist. Aber das war, bevor der Turm verflucht wurde. . .«
Der Herrscher zog die Vorhänge mit zitternden Händen beiseite, sein Gesicht war von Trauer verdüstert. Laurana, überrascht von
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