Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
beim Trocknen schrumpfen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, konnte er das Hemd aus Hirschhaut nicht mehr ausziehen. Einer seiner Arme war immer noch angewinkelt neben dem Kopf, seine andere Hand hatte er zwischen den Beinen. So lief er durch das Dorf, bis ihn endlich jemand befreite. Sie mussten ihn herausschneiden. Seit dem Tag hatte er einen neuen Namen: Schrumpfhemd.“ Die andern kicherten und Sarn ließ eine weiter Anekdote davon folgen, wie einmal das halbe Kriegslager panisch das Weite gesucht hatte, weil einer der Hunde mit dem Kopf in einem angenagten Kuhschädel stecken geblieben und laut jaulend durch das Lager gelaufen war. Die abergläubischen Männer hatten ihn für einen Rachegeist gehalten, der gekommen war, um sie alle zu töten.
Erich fragte sich, ob er auch einmal solche Geschichten zu erzählen hätte. Sicher hatte er im Dorf und auch in Hornhus die eine oder andere amüsante Begebenheit erlebt, aber spontan konnte er sich an keine davon erinnern. Und selbst wenn er sich erinnern könnte, hätte er seine Erlebnisse nie so gut erzählen können wie Sarn. Nicht einmal so gut wie der Halken, der nun wirklich kein Talent zum Redner hatte. Aber es verlangte auch keiner von ihm eine Geschichte zu erzählen. Diese Ehre war offensichtlich erfahrenen Kriegern vorbehalten. So konnte er sich ganz auf das Zuhören und eine weitere Scheibe Fleisch konzentrieren, die saftig gebraten vor ihm auf dem Teller lag und schneller von dort verschwand, als er es begreifen konnte. Er hatte wirklich großen Hunger. Aber egal wie viel er aß, es gab immer noch mehr davon und nachdem er ein zweites Mal Nachschlag geholt hatte, war er so vollgestopft, dass er sich kaum noch bewegen konnte.
Inzwischen hatten sich weitere Waldbewohner zu ihnen gesellt und Sarn bat einen der Ältesten um eine Geschichte. Der Mann nickte und schlagartig erstarb das Gemurmel und Gelächter um sie herum. Offensichtlich wusste man hier schon, dass dieser Älteste keine lustige Geschichte erzählen würde.
„ Vor einem Dutzend Jahren erschienen zwei weise Frauen mit einem Baby auf jenem Sommerfeld um einige Tage darauf zu verweilen und es in westlicher Richtung zu durchqueren. Niemand wagte es jenen zu nahe zu kommen, aber weil die Zeit bevorstand, in der die Kinder auf jenes Feld zu bringen sein würden, machte sich Wipfel, welcher damals Ältester war, auf, um mit jenen Frauen zu sprechen. Wipfel fragte jene, was sie auf jenem Sommerfeld wollten und jene sagten diesem, dass jene mehr über das Kind herausfinden und wenn möglich seinen Eltern zurückgeben wollten. Da jenes Kind ein Hürnin war, wollten sie es vor einer Türschwelle aussetzen, wie es Brauch ist. Wipfel fragte jene, ob sie jenes Kind nicht lieber in die Obhut dieser Waldbewohner geben wollten, aber jene verneinten. Jene sagten, dass jenes Kind großes Leid über die Waldbewohner bringen würde, wenn es bei ihnen bliebe. Doch sie sagten voraus, dass jenes Kind eines Tages dennoch ein Teil des Stammes werden würde.“
„ Und? Ist es?“, wollte Erich mit einem mulmigen Gefühl wissen. Schon wieder eine Geschichte, die sich vor zwölf Jahren abgespielt hatte.
Der Älteste zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es nicht. Ihr seid die ersten, die seit vielen Jahren zu uns gekommen sind.“
Die Waldbewohner um ihn herum stimmten ihm nickend und murmelnd zu und ein anderer begann nun eine neue Geschichte zu erzählen, die irgend etwas mit einem See zu tun hatte, aber Erich hörte kaum noch zu.
Wärme und Müdigkeit breiteten sich in ihm aus und als Kern sich zurückzog um zu schlafen oder irgend einen Unsinn anzustellen, nutzte er die Gelegenheit, um den anderen eine gute Nacht zu wünschen, sich ein Stück außerhalb des Dorfes nahe des Bachlaufs zu erleichtern und dann hoch in den Baumwipfeln nach seinem Nachtlager zu suchen. Seine Lippen waren geschmeidig vom Fett und seine Glieder innen und außen warm von Feuer und Gebratenem. Es dauerte nicht lange und er hatte seine Unterkunft, in der seine gewaschenen Sachen lagen, gefunden und war zwischen den Fellen eingeschlafen.
Ein seltsames Geräusch weckte ihn einige Stunden später. Es war ein Grunzen und Stöhnen, das ganz aus der Nähe kam und seinen Ursprung in einer der zwischen die Äste gespannten Zeltkonstruktionen haben musste, in denen Sarn und die anderen schlafen sollten. Erich schüttelte sich, um Leben in seinen eingeschlafenen Arm zurückzubringen und hörte genauer hin. In rhythmischen Stößen kamen die
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