Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
sah, wie Erich der Atem stockte. Die Krieger erlaubten ihm einen kurzen Augenblick, in dem er den Anblick in sich aufnehmen konnte. Ich selbst war ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht. Für eine Menschenstadt war diese Höhle eine gewaltige architektonische und bergmännische Leistung, aber ich hatte mir das Ganze ein wenig beeindruckender vorgestellt, aber das neue Hornhus war nicht gebaut worden um das Auge zu beeindrucken. Leicht konnte man Parallelen zum Plan der Stadt über der Erde entdecken, wenn auch mit veränderten Vorzeichen. Dort wo oben die Reste schwerer Gebäude lasteten, oder solche mit tief ausgehobenen Kellern, da zogen sich gewaltige Säulen vom Boden bis zur Decke. Da hingegen, wo die Oberfläche nur wenig Gewicht zu tragen hatte, wand sich die Stadt in abenteuerliche Tiefen hinunter, um mit den höchsten Türmen wieder nach oben zu streben. Diese Türme waren in der Regel so gebaut, dass die Fläche ihrer Stockwerke nach oben hin zunahm, was ihnen das Aussehen von Pilze gab. Wie Spinnenbeine stützten Steinstreben das zusätzliche Gewicht nach allen Seiten ab, so dass die Stadt in manchen Bereichen aussah wie ein Feld von knotigen Trauerweiden. Zwischen den Türmen und ihren Streben zogen sich Brücken über die Abgründe hinweg und an langen Ketten hingen Aufzüge und Gondeln hinunter. Es war ein undurchschaubares Wirrwarr an horizontalen, vertikalen und schrägen Linien, denn auch das Licht schien ein Teil der Architektur von Hornhus zu sein.
Die Stadt wurde erhellt von hunderten Schächten, die man an gut verborgenen Stellen zur Oberfläche getrieben hatte und natürlichen Spalten, die durch die Verwitterung entstanden waren. Mit jeder Minute änderte sich der Lichteinfall und die durch Metallspiegel umgeleiteten Strahlen, manchmal gebrochen oder gebündelt durch Kristalle, tasteten wie Fühler durch die Stadt. Gut, ich muss gestehen, dass ich doch ein wenig beeindruckt war, aber wahrscheinlich wirkt in Erzählungen alles ein wenig größer.
Chulak löschte die Fackel in einer Nische in der Wand und deutete mit ausgestrecktem Arm auf ein flaches Gebäude, das ein wenig an eine große Holzkiste erinnerte und auf dessen Dach ein Hain von Apfelbäumen stand. „Das ist das Geburtshaus der Menschen. Du wurdest doch von Menschen aufgezogen?“
Erich nickte. Er war unfähig etwas zu sagen. Aber seine Augen, die alles auf einmal anschauen wollten und genauso neugierig wie furchtsam hin- und hersprangen, sprachen Bände.
„Gut. Dann bist du dort geboren worden. Ich werde dich dort deinen Brüdern und Schwestern vorstellen."
Während wir über weitere Stufen, geschwungene Brücken und schmale Stege durch die Stadt liefen, sah ich mir den fünften Krieger genauer an, den, der ohne Bewaffnung gekommen war. Ich hätte darauf getippt, eine Art Magier vor mir zu haben, aber ich konnte keine Verdichtung des Kristallgefüges um ihn herum wahrnehmen, also musste es sich wohl um einen Priester oder etwas ähnliches handeln. Das war seltsam. Seit ihrem Fall waren die Hürnin zu ausgesprochenen Atheisten geworden und sie hatten auch zuvor schon nicht viel für Religion übrig gehabt, die ganzen Götter und Kulte, die die Kinder mit heim brachten hin oder her. Die Hürnin hatten gelernt, dass viele Völker im Grunde an das selbe glaubten und es mochte ein Körnchen Wahrheit darin stecken, aber noch keines von ihnen war Gott je begegnet. Und die Hürnin hatten es auf dem Höhepunkt ihrer Macht durchaus ernsthaft versucht Gott zu finden. Götter konnten sie keine finden, aber sie waren dafür uns auf ihrer Suche begegnet. Was für ein Glück für beide Seiten!
Der Priester beobachtete Erich mit einem nachdenklichen Blick, fast so als würde er Zweifel hegen, was seine Person betraf, aber er sagte nichts und ließ auch sonst durch keinen Hinweis darauf erahnen, was er dachte.
"Wie viele Menschen leben hier?", wollte Erich wissen, als das Geburtshaus der Menschen mit seinen Apfelbäumen hinter einer Säule erneut in Sicht kam.
"Menschen? Eintausend von Menschen erzogene Hürnin und der Rest diejenigen, die sich Elfen, Zwerge, Orks und Imps nennen … Insgesamt gibt es etwa zweitausend Hürnin in Hornhus. Schweig jetzt. Du wirst noch genug Zeit für deine Fragen haben."
Zweitausend also. Nur der hundertste Teil ihrer einstigen Zahl.
Immer wenn unsere kleine Gruppe auf andere Hürnin traf, wurde Erich mit großem Interesse beäugt. Es war ein seltenes Ereignis, dass ein Kind seinen Weg zurück nach Hornhus
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