Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
verschwieg. Da nichts über ihre Rückkehr vermerkt war, hieß das, dass die Gruppe nie zurückkam. Erich fand nur einen kurzen Verweis auf das persönliche Archiv der Familie Sommerfeld, zu dem allerdings niemand außer den Mitgliedern dieser Familie Zugang hatte.
Otto schloss die Kiste sorgfältig wieder und erzählte, dass es inzwischen mehrere Theorien gab, was Erichs Herkunft betraf. Eine von ihnen besagte, dass seine Eltern bei dem Zwischenfall gestorben waren, der dieser Gruppe von Reisenden das Leben gekostet hatte, eine andere behauptete, dass es manchmal vorkam, dass ein Kind spontan einen Horndämonen zu sich in die Welt holte. Irgendwann, so argumentierten sie, musste schließlich jemand den ersten Horndämon beschworen haben und zwar noch bevor die Hürnin ihren Pakt mit den Dämonen eingegangen waren. Denn dass ein Dämon aus eigener Kraft die Schwelle zwischen den Welten überschreiten konnte, war undenkbar. Warum sollte es also nicht möglich sein, dass ein weiteres Mal ein Horndämon unabhängig von der Gemeinschaft der Hürnin beschworen wurde?
Diese Vorstellung gefiel den Meisten ganz und gar nicht. Obwohl sie in verschiedenen Kulturen aufgewachsen waren, fühlten sich die Hürnin doch als Mitglieder eines einzigen Volkes. Dem Volk, das einen Pakt mit Dämonen eingegangen war. Dass jemand fremdes einen Zugang zu dieser Gemeinschaft erhalten sollte, schien einfach nicht richtig zu sein.
Eine weitere Erklärung war, dass es noch versprengte Hürnin in der Welt gab, die nach der Niederlage auf dem Sommerfeld nicht nach Hornhus zurückgekommen waren. Dabei blieb aber die Frage offen, wie sie es bisher geschafft hatten ihre Kinder davon abzuhalten wie Erich nach Hornhus zu gehen. Denn die Rückkehr an diesen Ort war ein Instinkt, die jeder Hürnin in sich trug.
Und dann gab es noch die, die daran glaubten, was Bern und der Priester Sarn gesagt hatten: Dass Erich einer Familie angehörte, in der das Blut der Hürnin seit mehreren Generationen im Verborgenen geschlummert hatte, bevor es sich in ihm vereinigte.
Auch Erich begann, eigene Vermutungen anzustellen. Nicht nur über seine eigene Herkunft, sondern auch über so ziemlich alles, was er im Archiv fand. Die meisten seiner Theorien waren voll von den unausgegorenen Ideen der Kindheit und verloren wie Seifenblasen schnell an Substanz, aber manche waren erstaunlich einsichtsvoll.
„Ich glaube dieses Archiv ist ein Relikt.“, sagte er eines Abends, als er in seine Kammer zurückgekehrt war, die nicht weit vom Haus der Menschen entfernt lag. Sarn war bei ihm, um ihn zu unterrichten und ihn danach zu fragen, was er im Archiv alles gelesen hatte. Seine Wohnhöhle, zu der auch Erichs Kammer gehörte, war in den Fels gehauen und hoch genug, dass Erich an den meisten Stellen aufrecht stehen konnte, aber auch nicht recht viel größer. Erich störte sich nicht daran, denn er verbrachte dort ohnehin kaum Zeit.
„ Wie meinst du das?“, wollte Sarn von ihm wissen.
„ Wahrscheinlich war es früher sehr nützlich das Archiv zu haben. Es hat so viele Hürnin gegeben, dass nicht jeder wissen konnte, was der Rat in seinen Sitzungen beschlossen hat. Aber heute genügt es, wenn einer zu einer Versammlung geht und dann seinen Nachbarn erzählt, was dort beschlossen wurde. Bei uns im Dorf war es nicht anders.“
Sarn nickte. „Aber wenn es nicht niedergeschrieben wird, kann es angezweifelt werden.“
Erich zuckte mit den Schultern. „Trotzdem: das Archiv ist riesig. Otto kommt kaum damit nach die Bücher zu reparieren, die mit der Zeit aus dem Leim gehen. Er hat es mir gezeigt. Manche zerfallen einfach.“
Sarn seufzte. „Es ist so groß, weil es die Geschichte der Hürnin in sich birgt. Kaum jemand weiß das noch zu schätzen. Um so wichtiger ist Sarns Dienst“
„Aber Otto hat gesagt, dass viele Hürnin in das Archiv kommen.“
„ Sie nutzen nur einen kleinen Teil der Bücher. Den, der eine Lebensspanne umfasst, höchstens zwei. Sie suchen nach alten Abmachungen, die belegen sollen, dass sie einen Anspruch auf weniger Arbeitsdienst oder mehr Nahrungsmittel haben. Für die alten Bücher oder die mit den Gedichten interessiert sich kaum jemand, außer sie behandeln ein schwülstiges Abenteuer mit Jungfrauen in Not. Das deutlichste Zeichen für den Verfall ist, dass Otto keinen Lehrling findet. Er hätte dich für sich beansprucht, wenn ich nicht mit ihm darüber geredet hätte.“
Erich klappte den Mund ein paar mal auf und zu, wusste aber nicht so
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