Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
damit gerechnet, aber die Stärke und Verschlagenheit der Reiche in Sunterak unterschätzt. Alle haben sie ihm Treue geschworen und alle haben sie ihn auf dem Sommerfeld verraten.“
„ Aber nur deshalb konnten sie den Krieg gewinnen, oder nicht?“
„ Oder nicht, oder doch, oder vielleicht!“, rief Sarn plötzlich aufbrausend und Erich wich erschreckt einen Schritt zurück.
„ Ich denke, du solltest nicht so viele Fragen stellen und zusehen, dass du die Texte richtig lernst.“
Erich nickte eingeschüchtert und schwieg, doch seine Fragen blieben. Da Sarn aber leise vor sich hinschimpfend in einem seiner Bücher blätterte, wagte er es an diesem Abend nicht noch einmal auf dieses Thema zu sprechen zu kommen und widmete sich lieber dem Text, der vor ihm lag.
Nach einiger Zeit blickte er von der Schriftrolle auf und räusperte sich vorsichtig, um erneut die Aufmerksamkeit seines Lehrmeisters zu erregen.
„ Was ist?“, wollte Sarn barsch wissen.
„ Woher weiß ich, ob ich die richtige Geschichte erzähle?“
Sarn wollte etwas erwidern, hielt aber dann kurz inne und runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
Erich strich die Schriftrolle glatt und überlegte sorgfältig, was er sagen sollte. „Ich meine, was ist eine Geschichte überhaupt? Warum gibt es mindestens drei verschiedene Versionen davon wie Koteh zu seinem fliegenden Gasthaus der dreifachen Stille kam?“
Sarn lächelte. So plötzlich wie sein Zorn zuvor gekommen war, war er nun auch wieder verflogen. „Lass mich Dir dazu eine kurze Geschichte erzählen: Drei blinde Brüder hatten sich in einer wolkenverhangenen, mondlosen Nacht verirrt. Etwas stellte sich ihnen in den Weg und sie versuchten herauszufinden, worum es sich dabei handelte. Der erste Bruder liebte den Geruch von reifen Pflaumen und ertastete etwas, das klein und flach war. Er bog es in seinen Händen hin und her und kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Art Buch handeln musste. Der zweite Bruder mochte den Geschmack von gekochtem Schweinefleisch mit einer Prise Salz. Er bekam etwas zu fassen, das lang, dünn und rund war und beschloss, dass er einen Knochen in der Hand hielt. Der dritte Bruder hieß Boran.“
Erich blickte Sarn erwartungsvoll an, aber als der sich mit seinem 'Ende der Geschichte'-Gesicht abwandte, begann er laut zu protestieren.
„ Was soll das bedeuten? Das kann doch nicht alles gewesen sein!“
„ Willst du die Geschichte erzählen?“
Erich runzelte die Stirn. Es schien sich tatsächlich um eine Einladung zu handeln.
„Nein, aber ich würde erwarten, dass auch der dritte Bruder ein Stück von dem Baum zu fassen bekommt und wie seine Brüder eine völlig falsche Vorstellung davon hat.“
„ So? Mag sein. Aber ist es Teil der Geschichte?“
„ Ja, sonst macht sie doch überhaupt keinen Sinn!“
Sarn lächelte schmallippig. „Warum muss sie Sinn machen?“
Diese Frage erwischte Erich unvorbereitet. „Na ja, sie muss nicht unbedingt Sinn machen, aber warum sollte man sie sonst erzählen?“
Sarn zuckte leichthin die Schultern. „Wer weiß? Vielleicht weil in ihr die Wörter so lustig aneinandergereiht sind? Oder weil ich mich so gerne reden höre? Oder einfach nur, weil ich will, dass du in den nächsten Tagen ununterbrochen über Boran nachdenken musst ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen.“
Erich stutzte. Es gab wenige Gelegenheiten, in denen Sarn zu Scherzen aufgelegt war, schon gar nicht, wenn es um das Erzählen von Geschichten ging.
Doch kaum hatte Erich das halbwegs verdaut, als Sarn auch schon wieder vollkommen ernst wurde. Er beugte sich zu seinem Schüler herüber und sagte eindringlich: „Es gibt noch so viel, was Du zu lernen hast. Keine Geschichte gleicht der anderen. Zwei Geschichten können Wort für Wort das selbe erzählen und dennoch genau das Gegenteil, wenn sie von einem anderen Publikum gehört und von einer anderen Person erzählt werden. Und zwei völlig unterschiedliche Geschichten können im Grunde das gleiche erzählen.“
„So wie bei Koteh und seinem Gasthaus der dreifachen Stille?“
Sarn schüttelte den Kopf. „Nein, das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.“
Erich verzog enttäuscht sein Gesicht und wandte sich wieder der Schriftrolle zu. Diese Art von Gesprächen, die ihn hauptsächlich verwirrten, gab es nun immer öfter. Sarn erlaubte Erich aber auch immer mehr Freiheiten, je mehr er lernte nach den Spielregeln von Hornhus zu spielen. Sarn war zwar sorgsam
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