Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
Geburtshaus der Menschen davon erzählt hatte, wie die Hürnin nach der Schlacht auf dem Sommerfeld nach Hornhus zurückgekommen waren. Otto der Archivar saß da um zuzuhören, ebenso der Heiler Sepatrik, Beatrix die Bestatterin und ein einarmiger Mann, der zu den Unglücklichen gehörte, deren Aufgabe es war die Fäkalieneimer der Hürnin zu entleeren. Er hieß Bogadon, aber der Name unter dem Erich und der Rest von Hornhus ihn kannte war Scheiße-Bog. „Niemand lässt sich ein Märchen erzählen, weil er wissen will, ob der Held die Prinzessin am Ende wirklich retten kann, sondern weil er wissen will, wie er sie rettet oder einfach nur, um zu erleben, dass er sie wieder und wieder retten kann. Man lässt sie sich erzählen, um eine Weile nicht an die eigenen Sorgen denken zu müssen, die sich nicht einfach mit einer heldenhaften Tat überwinden lassen, sondern nur mit Willenskraft und Durchhaltevermögen. Und so enden Märchen mit einer Heirat und einem langen glücklichen Leben. Niemand will erzählen, wie sich der Held als König gemacht hat, oder ob die Prinzessin später ihren Liebreiz an Sahnetorten verloren hat.“
Sepatrik kicherte.
„Die Kunst ist das wegzulassen, was nicht von Bedeutung ist und sich auf das zu konzentrieren, worauf es ankommt.“, fuhr Sarn fort. „Und darin gleichen Märchen dem Leben. Wenn man sich dafür entscheidet ein Märchen zu leben, dann sollte man alles weglassen, was nicht in ein Märchen gehört.“
„ Klappt nicht.“, sagte ein Mann, den ich nicht kannte. Er hatte ein hageres Gesicht und einen melancholischen Gesichtsausdruck. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er unten in den Pilzgärten beschäftigt. „Es gibt nicht sehr viele Prinzessinnen, die gerettet werden wollen und mit einem Drachen möchte ich mich auch nicht anlegen.“
Sarn nickte. „Deshalb muss man seine eigene Geschichte sorgfältig wählen. Vergreift man sich im Ton, hat das Schicksal seine eigenen Vorstellungen davon, welche Geschichte es hören will. Aber einem geschickten Erzähler erlaubt es manche Freiheit.“
Erich hörte aufmerksam zu, wenn Sarn bei diesen Gelegenheiten versuchte die Hürnin zu belehren und etwas in ihnen am Leben zu halten, was es vielleicht nie gegeben hat. Trotz aller Unterschiede erinnerte Erich das an seine Ziehmutter, die seinem Bruder und ihm ebenfalls oft Geschichten erzählt hatte, während sie Löcher in Kleidungsstücken stopfte oder Butter stampfte. Aber bei ihr schien alles immer so klar und einfach gewesen zu sein. Wenn Schneewittchen den Prinzen heiraten konnte, dann nur, weil sie tugendsam im Haushalt geholfen hatte und der böse Wolf bekam für seine Untaten die gerechte Strafe.
Aber was sollte Erich mit Sarns Worten anfangen?
Er hatte zum Beispiel keine Ahnung, wie er sein Leben wie eine Geschichte führen sollte. Sarn versuchte ihn dazu zu bringen sein Leben bis zum heutigen Tag zu beschreiben und von da an frei weiterzuerzählen, aber Erich hatte kein Talent dafür. Bestenfalls konnte er einige vage Vermutungen anstellen, aber es wurde einfach keine Geschichte daraus. Sarn bedrängte ihn nicht weiter, nachdem er es ein paar mal versucht hatte. Ihm genügte es, dass Erich die Geschichten erzählen konnte, die er auswendig gelernt hatte. Auch die anderen Zuhörer kamen, weil sie Freunde daran hatten mit Sarn zu diskutieren und nicht, weil sie ihr Leben ändern wollten.
„ Eine gute Geschichte geht nahtlos in das Leben derer über, die sie hören. Sie hat einen Helden, in dem man sich wiedererkennen kann, sie lässt ihn Dinge sagen und tun, die man gerne wiederholt und nicht zuletzt tut sie so, als ob nicht bereits alles auf die eine oder andere Weise erzählt worden wäre – und schafft es, dass niemand das bemerkt.“, beendete Sarn seine Predigt und Erich seufzte innerlich auf. Endlich konnte er sich wieder den Geschichten widmen und die Überlegungen was sie für das eigene Leben bedeuten mochten sein lassen. Die meisten von ihnen konnte er in den Archiven finden, aber andere hatten in Hornhus selbst Gestalt angenommen. Sarn erlaubte es Erich inzwischen kleinere Botengänge und Besorgungen für ihn zu erledigen. Er holte Wasser aus einer der Zisternen, gab Bücher bei Otto zurück oder besorgte Sarn etwas zu Essen. Dabei entdeckte er allerorten viele kleine Zeichen, die für den Uneingeweihten ohne Bedeutung blieben. Erst seit er die Geschichte von Norin und Bala kannte, machten die zerbrochen wirkenden Steine Sinn, die manche an einer Kette um
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