Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

haben vielleicht jedes Jahr 100 ein Kind, das die ersten Monate übersteht. Tatsächlich werden jährlich höchstens 20 Kinder aus Hornhus gebracht, aber jetzt stell dir mal vor, jeden Monat werden eine Handvoll kleinere Ortschaften um Hornhus herum ausgelöscht. Wäre ein bisschen auffällig, nicht?“
    Erich nickte. „Aber für das Blutritual ...“
    „ … muss ein Hürnin alle töten, die in seiner Nähe sind. Egal wie viele. Und wenn da nur ein alter vagabundierender Flickschuster, eine Wanderhure oder irgendein Hausierer ist, dann ist das eben so. Das reicht völlig. Zwanzig verstreute Tote ohne Namen fallen gar nicht weiter auf.“
    Erich schluckte. Ihn bereitete es Unbehagen, das Brogu so leichthin über das Töten sprach. Noch eine Sache, die ihn von den meisten anderen Hürnin unterschied.
    „Und in Goldwasser. Wie viele hast du da … ?“
    Brogu war eine Weile still und hing seinen Erinnerungen nach. Dann sagte er so leise, dass Erich Mühe hatte ihn zu verstehen: „Sie waren zu viert: Mispel, Godwig, Gerfalk und Tendel. Leid tut es mir eigentlich nur um Mispel, er war der einzige, der je nett zu mir war. Die anderen waren allesamt stinkende Bastarde, die jedes Mal ihre Wut an mir ausließen, wenn sie wie so oft eine Woche oder zwei kein Gold gefunden hatten.“
    Bevor Erich sich überlegen konnte, ob und wie er Brogu danach fragen konnte, wie er seinen Dämonen gerufen hatte und was danach passiert war, fuhr er von selbst fort zu erzählen und bekam währenddessen langsam sein Selbstvertrauen zurück: „Ich bin in einem der Stollen zu mir gekommen. In völliger Dunkelheit. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich da unten ohne Lampe zurechtfinden musste, aber es war das erste Mal, dass ich keine Ahnung hatte, warum ich da unten war. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mich einer der Goldgräber für irgendwas bestrafen oder sich einen Scherz mit mir erlauben wollte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich über einen halb abgesoffenen Seitenstollen an die Oberfläche gekommen bin. Dort hat mich Grem gefunden. Ich war vor Hunger, Erschöpfung und wahrscheinlich auch durch die Grubengase völlig unzurechnungsfähig. Als ich schließlich begriffen habe, dass er ein Horndämon ist, war es auch schon egal. Ich bin noch einmal zurück in die Festungsruine, habe aber nur Godwig gefunden. Er hatte eine Spitzhacke in seinem Schädel. Sah nie besser aus, wenn du mich fragst. Was aus den anderen geworden ist, weiß ich nicht so genau. Grem meint, dass ich sie hinunter in die Stollen gezerrt habe, aber ich hab mir nicht die Mühe gemacht nachzusehen. Danach habe ich alles, was ich an Vorräten finden konnte, auf Xatra gepackt und bin hier hergekommen.“
    „ Xatra?“, wollte Erich wissen.
    „ Unser Maultier. Hat es leider nicht durch die Sümpfe geschafft. So wie der Großteil des Gepäcks. Aber genug davon. Was ist mit dir? Wie viele waren in dem Haus in dem du aufgewachsen bist? Wie viele hast du getötet?“
    Erich schluckte. „In meinem Haus lebten meine Zieheltern und mein Bruder. Aber ihr Haus stand mitten im Dorf. Ich weiß nicht wie viele … vielleicht dreißig.“
    Brogu pfiff leise durch die Zähne und starrte dann mit leerem Blick vor sich hin.
    „ Dreißig. Beatrix hat erzählt, dass seit Sarn keiner mehr als zwanzig getötet hat, als er seinen Dämonen gerufen hat.“
    „ Was bedeutet das?“, wollte Erich wissen.
    „ Wenn du mich fragst, dass dein Dämon sehr stark ist.“
    Erich dachte eine Weile darüber nach und sagte dann: „Ich weiß wirklich nicht, was vorhin in mich gefahren ist. Tut mir sehr leid, dass ich dich so angeschnauzt habe.“
    „Schon gut, irgendwie hast du ja recht. Früher waren alle Hürnin geborene Krieger. Aber diese Zeiten sind lang vorbei. Der Rat ist der Meinung, dass es besser ist, nach und nach aus dem Gedächtnis der Welt zu verschwinden, wie die Ratsmitglieder das ausdrücken. Krieger wie Chulak sind eine aussterbende Art.“
    „ Aber warum? Ich dachte, das sei es, was die Hürnin ausmacht“
    Brogu zuckte mit den Schultern.
    „Die Welt hat sich verändert. Der Rat wird schon wissen, was das Beste ist … Oh, schau mal, da drüben!“
    Im rötlichen Strahl eines einzelnen Kristalls, der das Licht von der Oberfläche brach und weiterleitete, konnte man eine Gruppe von Frauen und Mädchen sehen, die gerade dabei waren, Wäsche auf eine der Schnüre quer über die Abgründe der Stadt zu spannen.
    „Elfenmädchen sind die schönsten.“, sagte Brogu. „Ich