Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
der die spöttische Wahl seiner Worte Lügen strafte. »Nichts gegen deine Gesellschaft, schönes Kind, aber das scheint mir doch nicht der richtige Moment für einen lauschigen Spaziergang zu sein.«
Doch Murida wies nur nach vorn. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht – auch wenn Andrej es immer noch nicht richtig erkennen konnte, denn es hatte dieselbe Farbe wie die Wüste und war zum Großteil von Sand bedeckt, der vielleicht ein Jahrtausend Zeit gehabt hatte, es unter sich zu begraben, und an dieser Aufgabe dennoch gescheitert war. Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes, fand Andrej, bewies er doch, dass Menschen imstande waren, Dinge zu erschaffen, die selbst den Kräften der Natur standhalten konnten.
»Beeindruckend«, sagte Abu Dun, obwohl er kaum mehr erkennen konnte als Andrej. »Was ist das?« »Niemand weiß, wie seine Erbauer es genannt haben, oder welchem Zweck es gedient hat, außerdem vielleicht, einfach da zu sein«, antwortete Murida mit einer Stimme, die fast ehrfürchtig klang. »Die Menschen heute nennen es Sphinx und halten es für ein Sinnbild der Zerstörung und des Unheils-was der Wahrheit wahrscheinlich nahekommt.«
»Das ist beeindruckend«, sagte Abu Dun. »Ja, was für ein Glück für uns, dich dabeizuhaben. Ich habe schon immer davon geträumt, in der Nacht nach einer Seeschlacht durch die Wüste zu marschieren und mir Geschichtsunterricht geben zu lassen.« Murida zog knapp die Brauen in die Höhe und ging los.
Der Wind hatte sich mittlerweile zu einem ausgewachsenen Staubsturm gemausert, dessen graue Schwaden alles verschlangen, was weiter als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, und mindestens die Hälfte der riesigen Steinskulptur war schon vor einer Ewigkeit von Sand begraben worden. Was Andrej aus der Nähe erkennen konnte, war jedoch kolossal. Die Sphinx hatte die Form eines gewaltigen liegenden Löwen mit einem menschlichen Gesicht, dem nicht einmal der seit hundert Generationen schmirgelnde Wind etwas hatte anhaben können. Sie war von einer zeitlosen Schönheit, und die Augen, die in gut zehn Metern Höhe über Andrej hinweg zum anderen Ufer des Flusses blickten, hatten etwas an sich, das Menschen dazu brachte, vor Ehrfurcht auf die Knie zu fallen.
»Wusstet ihr, dass Ramses der Große angeblich über zweihundert Jahre lang über dieses Land geherrscht hat?«, fragte Murida unvermittelt.
Andrej hatte nicht einmal gewusst, dass es einen Herrscher dieses Namens gegeben hatte und zuckte nur die Schultern, doch Abu Dun fragte kichernd: »Und was ist mit Ramses dem Kleinen?«
Murida funkelte ihn nur an. Andrej spürte ihren Ärger, und auch ihm selbst fiel es immer schwerer, Abu Duns kindisches Betragen mit genau der Missachtung zu bedenken, die es verdiente. Es wurde schlimmer, begriff er. Abu Dun benahm sich, als wäre er betrunken. Und das auf eine besonders unangenehme Art. Natürlich lag es am Kat, aber diese Erkenntnis machte es nicht besser.
»Lass das«, sagte er nur.
»Ganz wie Ihres befehlt, Massa«, griente Abu Dun. »Wenn Ihr Eurem unwürdigen Diener nur noch verraten würdet, was er lassen soll?«
»Atmen?«, schlug Murida vor. Abu Dun machte ein nachdenkliches Gesicht, und Andrej wappnete sich innerlich gegen eine weitere kindische Antwort des Nubiers, doch nun sprang ihm Murida bei, indem sie zum Fluss hindeutete und sagte: »Folgt mir, und seid in Allahs Namen leise. Ihr seid nicht die einzigen mit guten Ohren!« Fast unnötig zu erwähnen, dass Abu Dun ein dümmliches Gesicht machte und mit dem kleinen Finger im Ohr bohrte, um dann einen Moment lang lauschend den Kopf auf die Seite zu legen. Aber wenigstens sagte er nichts mehr, sondern schloss sich ihnen nur Grimassen schneidend an. Murida führte sie immer tiefer in die Dunkelheit hinein. Sie ging zwar schnell, doch ihre Bewegungen hatten merklich an Eleganz verloren. Glitt sie normalerweise so mühe- und lautlos wie ein Schatten dahin, so sah Andrej ihr jetzt an, welche Anstrengung sie jeder einzelne Schritt kostete. Sie war zu Tode erschöpft, aber viel zu stolz, um es zuzugeben. Er würde sie im Auge behalten müssen. Zuerst aber galt es, ihr Ziel zu erreichen und dabei nach Möglichkeit am Leben und in Freiheit zu bleiben. Vor ihnen in der Ferne flackerte das rote Licht. Einmal stieß Muridas Fuß gegen etwas Hartes und Glattes, das mit einem Geräusch wie Seide durch den Sand davonschlitterte. Wieder spürte er eine Präsenz. Vielleicht Menschen. Vielleicht aber auch etwas anderes, feindselig
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