Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
erfahre, was genau Sharif gemeint hat, als er vom Verlust der Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen gesprochen hat«, erwiderte Abu Dun. Er schluckte, kämpfte einen Würgereiz nieder und atmete dann so laut ein, dass es beinahe wie ein leiser Schrei klang. »Wenn auch nicht mehr allzu lange, fürchte ich.« »Was ist los mit dir?«, fragte Andrej besorgt. Statt zu antworten, wandte sich Abu Dun mit einem Ruck ab, platschte zwei Schritte weit ins Wasser hinein und beugte sich nach vorne, um sich qualvoll zu übergeben. Erst nach einer geraumen Weile und nachdem sein Magen nichts mehr als grün gefärbte Galle von sich geben konnte, beugte er sich weiter vor, schöpfte eine Handvoll Wasser und spülte sich den Mund aus. Andrej sah ihm mit wachsender Sorge, aber schweigend zu.
»Was für eine Verschwendung! Schade um das schöne Kat.« Abu Dun kam zurück, streckte fordernd die Hand aus und nahm sich eine – deutlich kleinere – Portion KatBlätter aus dem geöffneten Beutel in Andrejs Hand. Kauend, aber diesmal sichtbar darauf bedacht, die Lippen geschlossen und seinen Speichel und den Saft der grünen Blätter im Mund zu halten, fuhr er fort: »Und, ja, ich gebe mich geschlagen. Das war eine dumme Frage, Hexenmeister. Ich glaube nicht, dass ich sie so schnell übertreffen kann.«
»Du weißt genau, was ich meine!«, antwortete Andrej mit einem nur der Sorge um seinen Freund geschuldeten Unterton von verhaltenem Zorn in der Stimme. »Ach ja? Weiß ich das?« Abu Dun schluckte lautstark und sah ärgerlich an sich herab, als seine Innereien mit einem beinahe noch lauteren Gluckern und Rumoren darauf reagierten. Als Andrej ihm den Beutel hinhielt, schüttelte er jedoch den Kopf, watete wieder ganz ans Ufer hinauf und ließ sich mit dem erschöpften Ächzen eines uralten, müden Mannes auf eine graubraune Erhebung sinken, der nicht mehr anzusehen war, ob sie von der Hand der Natur erschaffen oder ein jahrtausendealter Mauerrest war. Andrej folgte ihm, hielt sich aber zurück und wartete darauf, dass Abu Dun von sich aus das Wort ergriff. Er tat es auch, aber es dauerte lange, endlose Minuten, in denen er nur dasaß, bedächtig kaute und aus zu schmalen Schlitzen zusammengepressten Augen ins Leere starrte. »Weißt du, Hexenmeister«, begann er schließlich mit fast amüsierter Stimme, in der allerdings noch ein anderer Ton mitschwang, der Andrej Angst machte. »Auf diese Weise bekommen wir wenigstens die Antwort auf eine Frage, die uns beide schon sehr lange quält. Man muss immer das Positive sehen.« »Und welche sollte das sein?«, fragte Andrej gehorsam.
Der Nubier hob den bandagierten Arm vor das Gesicht, betrachtete ihn ausgiebig aus allen Richtungen und wickelte dann den blutigen Verband ab, um ihn in hohem Bogen ins Wasser zu werfen. Der Armstumpf, der darunter zum Vorschein kam, sah schrecklich aus: Angeschwollen und rot und brandig schien die Wunde zu pulsieren, als bewegten sich kleine, gierige Tierchen darunter, die das Fleisch des Nubiers von innen heraus verzehrten. Der Gestank, den sie verströmte, ließ ein leises Ekelgefühl in Andrejs Kehle aufsteigen, dessen er sich sofort schämte.
Dennoch zwang ersieh, näher heranzutreten und Abu Duns Arm aufmerksam in Augenschein zu nehmen. Es war nicht nur der grässliche Geruch. Die Wunde war entzündet, und ihr bloßer Anblick gab Andrejs Entsetzen neue Nahrung. In den unzähligen Schlachten, die er erlebt hatte, hatte er ungleich Schlimmeres gesehen, und dennoch … so hätte es nicht sein dürfen. Nicht bei Abu Dun, einem Mann ihrer Art. »Was geschieht mit dir?«, flüsterte er mit leiser, beinahe brechender Stimme. »Ich habe doch gesagt, dass ich mich geschlagen gebe«, erwiderte Abu Dun. »Du musst nicht noch mehr dumme Fragen stellen.« »Es war keine dumme Frage.« »Doch!«, behauptete Abu Dun heftig, ließ den Arm dann sinken und schüttelte den Kopf. Seine Lippen bewegten sich. »Oder auch nicht. Welche Rolle spielt das schon? Um einmal deinen neuen Freund, den Hauptmann, zu zitieren: Es ist vorbei.« Er lachte, ganz leise und sehr bitter. »Aber willst du denn gar nicht wissen, aufweiche Frage dieses Prachtstück hier die Antwort ist?«
Er wedelte auffordernd mit seinem Armstumpf, und Andrej musste sich nun beherrschen, um ihn nicht zu packen und so lange zu schütteln, bis er endlich Vernunft annahm. Stattdessen sagte er: »Doch.« »Wir haben uns stets gefragt, was passiert, wenn wir ein Körperteil verlieren«, sagte Abu Dun.
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