Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
genau wie ihre Mutter vor ihr.« Die Stimme des alten Weibes bekam einen schneidenden Klang. »Ich habe drei Generationen des Hauses Med herangepäppelt, und ich kenne die Schwächen dieser Familie. Die Heilerin hat es mir gesagt. Es ist eine Krankheit, und sie macht die Muskeln schlaff, und den Mund trocknet sie aus, und der Atem wird süß von ihr. Sie hat es, genau wie ihre Mutter vor ihr es gehabt hat, und wie es ihre Kinder gehabt haben würden.« Sie rang nach Luft. »Ich hab' es gesehen. Ich weiß ...«
»Schluß jetzt!« befahl Paxe. Sie machte zwei große Schritte zur Tür, packte die Alte an den Schultern und schob sie auf den Flur hinaus. Dann kam sie wieder ans Bett zurück. Wieder beugte sie sich hinab und befühlte Arrés Stirn. »Elith ist eine alte Krähe«, sagte sie. »So krank ist sie gar nicht. Aber man muß auf sie aufpassen.«
Sorren schluckte. »Ich werde bei ihr bleiben.«
»Wenn du Hilfe brauchst, gib dem Torwächter eine Nachricht. Er weiß, wo er mich finden kann.«
Sorren nickte. »Das werde ich tun.«
Als Paxe gegangen war, ging Sorren in ihr Zimmer. Sie trug ihr Kissen und ihre Steppdecke in Arrés Schlafzimmer hinüber. Der Kerzenschein zuckte über die schmale schlafende Gestalt hin. Sie wollte nicht, daß Arré starb. Sie hockte sich neben das Bett und belauschte das schwere rasselnde Atmen, und wilde Gedanken schossen zügellos durch ihren Kopf. Vielleicht war die Krankheit Arrés ein Zeichen für sie, vielleicht würde sie verschwinden, diese Krankheit, wenn sie in den Tanjo ging, dort gestand, wer und was sie war, wenn sie ihre Träume aufgäbe und eine Hexe würde ... Doch sie wußte es besser. Man konnte mit dem Chea nicht feilschen. Das hatte sie selbst sogar zu Kadra gesagt.
Arré schlief zwei ganze Tage lang. Sorren wachte bei ihr am Bett, so gut es eben ging. Lalith hatte die Einkäufe übernommen, Toli das Saubermachen. Den Wachen hatte man einfach gesagt, daß Arré sich nicht ganz wohl fühle und daß sie keine Besucher zu sprechen wünsche. Alle paar Stunden kam Paxe herauf; doch sie sagte nur, wenn Arrés Atmung sich nicht verändere und sie weder zu heiß noch zu kalt würde, sollte man sie alleinlassen, warten, bis sie von selbst erwache. Aber was, wenn sie das nicht tut? dachte Sorren, sprach es aber nicht aus. Es würde dem Satz zu große Wirklichkeit verliehen haben, hätte sie ihn ausgesprochen.
Am zweiten Tag befand sich unter den Besuchern Jenith.
Sorren kannte die Frau nicht, aber sie erinnerte sich an ihren Namen. Sie ging selbst ans Tor. »Es tut mir leid«, sagte sie, »aber Arré Med kann dich jetzt nicht empfangen. Könntest du noch mal wiederkommen?«
»Gut. Ich komme wieder«, sagte die dunkle Frau. Sie roch nach Wein und Himmelskraut. »Aber sag ihr ganz bestimmt, daß ich da war.«
Am dritten Morgen erwachte Arré. Sie war sehr geschwächt, und Sorren mußte ihr auf den Nachttopf helfen. Sie wollte es nicht glauben, als Sorren ihr sagte, wie lange sie geschlafen hatte. »Zwei Tage und zwei Nächte? Das kann nicht sein!« Doch die schweißdurchtränkten Bettlaken trugen schließlich dazu bei, sie zu überzeugen. »Ich will mein Bad. Und ein Frühstück«, sagte sie und zog die Nase hoch. »Heiliger Wächter! Mach rasch das Fenster auf!«
Sorren schob die Fensterschirme auf. »Ich hatte Angst, du könntest dich erkälten«, sagte sie.
Arré betrachtete das Nest des Bettzeugs auf dem Fußboden. »Wer ist bei mir gewesen? Du?« Sorren nickte. Arré streifte ihr über den Arm. »Ich dank dir, mein Kind«, sagte sie. »Ich hab' dir einen Schrecken eingejagt, nicht wahr? Ich hab' mir selber Angst gemacht.« Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Pah! Ich fühle mich so leer wie ein leerer Krug, und ich stinke ärger als eine Ziege!«
Nach dem Heißwasserbad bestand sie darauf, daß man ihr in das Arbeitszimmer im Erdgeschoß hinabhelfe. »Ich habe Arbeiten zu erledigen. Wer ist gekommen, während ich schlief?«
»Jenith war da«, sagte Sorren.
»Jenith? – Ach ja, die Spürnase! Wann kommt sie wieder?« Sorren zuckte die Achseln.
»Wieso weißt du das nicht?«
Also spielt sie die Gereizte, wie eine eingesperrte Biene, um die zwei Tage des Schweigens wieder wettzumachen, dachte Sorren.
Schließlich erklärte Sorren dem Koch: »Ich übernehme wieder die Einkäufe. Sag Lalith, sie soll an die Tür gehen, wenn jemand läutet.« Es war der vierte Tag der Woche, und sie wollte zu Kadra gehen. Sie beeilte sich bei ihren Einkäufen und
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