Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Frau. Paxe saß fast unsichtbar in dem anderen Sessel, ihre Augen waren geschlossen, und sie sah aus wie ein düsterer brütender Schatten.
Arré legte Sorren die Hand auf die linke Schulter. Dann ließ sie sie zu dem Armband der Leibeigenen hinabgleiten und fummelte an der Schließe herum. Die Schnalle sprang auf, und das Armband fiel klirrend zu Boden. Arré sprach: »Sorren-aus-den-Weingärten, ich entlasse dich hiermit aus meinen Diensten. Du bist von nun an nicht mehr Leibeigene für mich noch für mein Haus. Die Jahre deines Dienens sind beendet. Du bist frei und kannst gehen, wohin zu gehen du wünschest.«
Frei – was bedeutete das: frei? Sorren vermochte nicht zu sprechen. Sie starrte auf das Armband der Leibeigenen. Sie hob es vom Boden auf und drehte es in den Händen. Die roten und blauen Dreiecke blitzten. Sie schnippte das Schloß mit dem Finger an. Es sah aus wie zerbrochen.
»Warum?« fragte sie.
»Weil es an der Zeit ist«, sagte Arré und beugte sich vor. »Du kannst natürlich gern weiter in meinen Diensten bleiben, wenn du das willst – aber dann als bezahlte Dienerin, nicht als Leibeigene. Außerdem liegt Geld für dich bereit. Oder du kannst auch in die Weinfelder gehen, wenn du Lust hast. Ich werde dir ein Pferd geben.«
Sorren betastete den blassen Ring aus Fleisch an ihrem Oberarm. »Ich kann ja nicht reiten«, sagte sie. Sie schaute zu Paxe hinüber. Die Hofmeisterin hatte nun die Augen geöffnet. »Ich möchte aber nicht in die ... die ... die Weingärten.«
Sie schloß die Augen und sah vor sich die Landkarte, die Kadra für sie gemalt hatte, und die genaue Reiseroute darauf eingezeichnet. An deren Ende lag Tornor Keep. Sie konnte ebensowenig nicht dorthin reisen, wie sie aufhören konnte zu träumen, oder zu sprechen, oder zu lieben. Sie erhob sich und ging zu Paxe und kniete an ihrem Sessel nieder. Die Hofmeisterin neigte sich über sie; in ihren Augen glitzerten die nichtvergossenen Tränen. Sorren streckte die Hand aus, und Paxe faßte sie fest und zog sie an ihre Lippen. Ihr Atem war warm. »Chelito!« Sanft legte sie die andere Hand auf Sorrens Haar.
Sorren drängte sich an sie, behutsam wegen des verbundenen Armes.
Sie fragte: »Wirst du mit mir in die Berge fahren?«
Arré bewegte sich, sprach aber kein Wort. Sie blickte von Paxe weg.
Paxe sagte: »Ich habe meine Fahrt zu den Bergen vor vielen, vielen Jahren gemacht, chelito.« Über Sorrens Kopf hinweg schaute sie zu Arré hin. »Ich werde dich vermissen, mit jedem Atemzug, den ich tue. Aber – mein Sohn ist hier, meine Verantwortlichkeiten sind hier, meine Freunde sind hier. Ich mag nicht aus Kendra-im-Delta weggehen.« Der Lampenschein bestrahlte die Bögen ihres Gesichtes. »Ich habe meine Fahrt hinter mir, du beginnst die deine. Für dich ist das hier der Ort des Aufbruchs. Aber für mich ist hier die Heimat.«
23. Kapitel
Die Mauern der Stadt lagen nun hinter ihr. Das helle Herbstlicht warf ihre Schlagschatten nach links. Ein langer Schatten, ein kurzer Schatten, dachte Sorren, als sie von ihrem eigenen schweren Schatten auf den kürzeren von Jenith blickte. Rechts von ihnen blitzte der Fluß zwischen den hängenden Zweigen der Weiden. Die Barkassenskipper waren draußen im Fahrwasser – sie konnte sie hören, wie sie Geschichten erzählten, Neuigkeiten austauschten, Grüße übermittelten. Am anderen Flußufer lagen die Baumwollfelder noch weiß von den aufgesprungenen Fruchtbällchen. Die Pflücker zogen mit ihren Säcken durch die Pflanzenreihen. Sorren fragte sich, ob sie die Neuigkeit über Isak Med schon gehört hatten.
Sie verschob die Tragriemen ihres Packs auf den Schultern. Das Bogenfutteral und die Pfeile schlugen ihr gegen die rechte Hüfte. Drei Tage waren vergangen, seit Isak in die Verbannung gejagt worden war. Myra Ishem Med befand sich noch in Kendra-im-Delta. Sorren erinnerte sich an die Gerüchte, die sie gehört hatte, daß Isak Med sich, trotz des Verbannungsbefehls, noch immer in der Stadt aufhalte. Aber sie wußte, das konnte nicht wahr sein. Sie fragte sich, wo er sein mochte. Seltsam erschien es ihr, an ihn als nur einen anderen Landfahrer zu denken, als an einen, der über die Straßen zog. Aber wenn sie an Elith dachte, wallte noch immer Zorn gegen ihn in ihr auf. Aber dann, wenn sie an Isak-den-Tänzer dachte, verblichen ihre Zornesgefühle und machten selbst jetzt noch der Bewunderung und Sorge Platz – und noch einem anderen Gefühl, das sie nunmehr als reines Mitleid zu
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