Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Kedéra. Sie hatte Sorren die Hand auf die Schulter gelegt und zeigte mit der anderen hinaus. »Siehst du die Straße da? Die führt nach Westen.«
»Nach Cloud Keep«, sagte Sorren, die sich an ihre Karte erinnerte.
Der Druck der Finger ließ nach. »Ja. Und nach Pel Keep, und weiter, zu den Westlichen Bergen.«
Sorren wandte sich um und schaute sie an. Sie lächelte ihr mit weiten lichterfüllten Augen entgegen.
Dann trat das Mädchen an das Tablett und nahm sich Brot. »Hast du was geträumt?« fragte sie.
»Nichts«, antwortete Sorren.
»Ich schon«, sagte Kedéra, setzte den Satz jedoch nicht fort. Sie sagte statt dessen: »Erzähl mir was über den Süden!«
Auch Sorren nahm sich Brot. »Was willst du denn wissen?«
»Was die Leute tun.«
»Sie bebauen das Land«, sagte Sorren, »und sie fischen und bauen Häuser. Sie spinnen Seide.«
»Wir weben mit Wolle«, sagte Kedéra.
»Sie bearbeiten Metall und Tonerden.«
»Tanzt ihr?« fragte Kedéra.
»Manche. Die Asech tanzen mit Schlangen. Und die von ihnen, die in der Stadt aufwachsen, werden Akrobaten und Gaukler, und ein paar, die edelgeborenen unter den Städtern, erlernen den wahren Tanz. Ich habe für einen Tänzer getrommelt.«
»Wer war sie?« fragte Kedéra.
»Er. Isak Med. Er ist jetzt fort aus der Stadt. Verbannt.« Selbst jetzt und hier fiel es ihr schwer, über Isak Med zu sprechen. Und sie brachte es nicht über sich, das häßliche Wort »gesetzlos« zu gebrauchen.
Kedéra sagte: »Du warst eine Leibeigene, jetzt bist du eine Botin; du warst eine Trommlerin, du bist eine Hexe – gibt es etwas, was du nicht kannst?«
Sorren grinste. »Singen«, sagte sie. »Und auf einem Pferd reiten. Und lesen und schreiben«, fügte sie hinzu.
Sie aßen das Brot auf. Kedéra schlug die Steppdecken zurück, damit sie auslüften konnten. Lauf strich zwischen Kedéras Knie und der Tür hin und her. »Er ist ruhelos«, sagte sie. »Er will rennen.« Sie zog sich an. Dann gingen sie hinunter in den Inneren Hof. Lauf schwänzelte, rutschte auf dem Bauch im Pulverschnee wie ein Hundejunges. Sorren legte den Kopf in den Nacken und spähte zum Himmel. Wie Federn aus Eis rieselten die Schneeflocken herab. Sie streckte die Hand aus, um eine zu erhaschen, doch sie wichen ihr aus. Sie machte den Mund auf, um herauszufinden, wie sie schmecken mochten ... Ihr Atem stieg rauchig in die Luft und brachte die Flocken zum Schmelzen. Eine streifte ihre Lippen, und sie beleckte die Stelle mit der Zunge. Der Schnee besaß keinerlei Geschmack. Auf eine unklare Weise enttäuscht, wandte sie sich wieder zu Kedéra um.
Sark, Ryke, Kedéra und Merith standen am Tor des Inneren Hofes. Daneben stand gleichmütig das braune Maultier vor einem karrenähnlichen Gefährt. Als Sorren nähertrat, sah sie, daß der Karren keine Räder hatte, sondern statt dessen glatte flache Hölzer, die am vorderen Ende aufwärtsgebogen waren. Leise flüsterte sie Kedéra ins Ohr: »Was ist denn das?«
Kedéra antwortete: »Das nennt man Schlitten.«
Merith lächelte Sorren entgegen. »Hast du wohlgeschlafen? Hast du es warm genug gehabt?«
»Ja. Ich danke dir«, gab Sorren zurück.
»Es muß für dich schwer sein, unsere Kälte auszuhalten, wo du doch aus dem Süden kommst«, sagte Merith freundlich.
Aber ich bin keine Südländerin, dachte Sorren, ich hab' den Winter im Blut. »Ach, nicht besonders«, sagte sie zu Merith. »Ich fühle mich richtig zu Hause hier.«
Meriths Lächeln wurde ein wenig säuerlich. Sie wandte sich Sark und ihrem Sohn zu. »Sagt Varin meine Empfehlungen, wenn ihr ins Dorf kommt, und fragt, ob sie uns ein paar Fische abgeben können.«
»Fisch?« fragte Sorren.
Kedéra erklärte es ihr. »Im Winter fischen wir durch das Eis.«
Sorren dachte: das würde ich gern mal sehen. Sark klatschte dem Maultier aufs Hinterteil. »Yaa!« rief er. Das Maultier schnaubte und setzte sich in Bewegung. Der Schlitten glitt glatt durch den frischen Schnee. Wie vernünftig, dachte Sorren. Lauf folgte dem Gefährt bis unter das Äußere Tor. Kedéra rief ihn, und er bellte einmal und kam dann in den Hof zurückgetrottet. Er trug etwas im Maul.
Sie nahm ihm mit spielerischer Gewalt den Gegenstand ab. »Das ist ja eine Wachtel.« Sie drehte und wendete den kleinen braunen Vogel hin und her. Er war steif, und die Federn waren von einem Netz eisiger Kristalle überzogen. »Kein Blut daran«, sagte sie. »Die ist sicher an der Kälte gestorben.«
»Oder weil sie krank war«, sagte
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