Die Chroniken der Nebelkriege 1: Das Unendliche Licht
niemand zu sehen. Wieso hatte ihn der Zauberer dann auf das Pult hingewiesen ? Es war übersät mit Papieren, Büchern und Schreibutensilien. Kai wollte erneut sein Bedauern kundtun, als er plötzlich auf eine Gänsefeder aufmerksam wurde. Sie steckte in einem Tintenfass und wackelte heftig hin und her.
»Siehst du mich jetzt?«, fragte die Stimme.
»Ah, nicht wirklich.« Kai räusperte sich und trat einen weiteren Schritt an das Pult heran. Einen Moment hatte er das Gefühl, dass sich im Schatten des Tintenfässchens etwas bewegte.
»Ach, potz Blitz, es ist doch immer dasselbe mit euch Menschen«, grollte die Stimme. Jäh erfüllte ein luftiges Brausen den Raum, das stark genug war, um einige achtlos zu Boden geworfene Blätter aufflattern zu lassen. Kurz darauf schwebte ein Vergrößerungsglas von einem der Regale zu dem Pult hinüber und kam hochkant neben einer Ledermappe zum Stehen.
In der Glaslinse wurde ein großes Auge mit dunkler Pupille sichtbar, das Kai gereizt anblinzelte. Es gehörte zu einem weißhaarigen alten Mann mit spitzer Nase und kühn geschwungenem Kinn, dessen Gesicht von einem sorgfältig gepflegten Backenbart eingerahmt wurde. »Ist es so besser?«, tönte es vom Pult. Kai gab einen Laut der Überraschung von sich. »Bei allen Moorgeistern! Seid Ihr das, Magister?« »Sapperlot noch mal. Ja!«, antwortete der Zauberer. »Siehst du hier noch jemand anderen?«
Das Vergrößerungsglas schwebte wieder zurück zum Bücherregal, während Kai entgeistert das Männlein auf dem Tisch anstarrte.
Der Zauberer war nicht größer als ein ausgestreckter Zeigefinger. Der puppenhafte Gehrock aus dunkelblauem Stoff, der zierliche Gürtel - selbst die Stiefel waren kaum größer als Erbsen. Mit offenem Mund näherte Kai sich seinem seltsamen Gegenüber. Der winzige Magister stand mit in die Hüften gestemmten Händen auf der Ledermappe und blickte ungeduldig zu ihm auf.
»Hattet ... hattet Ihr einen Unfall, Magister? Soll ich Quiiiitsss rufen, damit...« »Sag mal, Junge, sperrst du zwischendurch auch mal deine Ohren auf?« Kai schluckte, während der Magister mit seiner Beschimpfung fortfuhr. »Als ich vorhin sagte, es sei >immer dasselbe mit euch Menschen<, was schließt du daraus?« »Dass Ihr kein Mensch seid?«
»Nicht schlecht, Junge. Du kannst also, wenn du nur willst.«
»Und was seid ihr dann? Ein Gnom?«
»Ein Gnom? Mitnichten. Hast du noch nie etwas vom stolzen Volk der Däumlinge gehört?«
Kai schüttelte bedauernd den Kopf. Angesichts der winzigen Gestalt des Zauberers schien es ihm wie ein Wunder, dass er Eulertin überhaupt verstehen konnte. Sicher war bei alledem Zauberei im Spiel.
»Nun ja«, murmelte der Däumling und kratzte sich am Bart. »Ich gestehe, dass du nicht der einzige Unwissende bist. Ehrlich gesagt, liegt meinem Volk auch nicht viel daran, Aufsehen zu erregen. Doch in Zeiten wie diesen können wir uns Zurückhaltung nicht mehr leisten. Die freien Völker müssen angesichts der Bedrohung, die von der finsteren Nebelkönigin Morgoya ausgeht, zusammenhalten. Das ist auch der Grund, warum ich heute in Hammaburg wirke.«
Eulertin verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und ging auf der ledernen Mappe auf und ab.
»Also, mein Junge. Wie du mitbekommen hast, bin ich sehr beschäftigt. Sicher wirst du eine Reihe Fragen haben. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, sie zu stellen.« Kai trat einen Schritt zurück. Die direkte Art des Magisters verwirrte ihn ebenso wie alles andere im Haus des Zauberers.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, seufzte er. »In den letzten Tagen ist so viel geschehen.«
»Ja. Ich wurde darüber in Kenntnis gesetzt«, murmelte der Däumling.
»Vielleicht könnt Ihr mir erklären, warum es zu dem Überfall auf Lychtermoor kam?«, brachte Kai schließlich hervor. »Denn wäre dieser verfluchte Mort Eisenhand nicht gewesen, wäre meine Großmutter jetzt noch am Leben.«
»Ja, auch von diesem schlimmen Verlust habe ich gehört«, sagte der Zauberer und blieb stehen, um Kai einen mitfühlenden Blick zu schenken. »Warum Eisenhand in die Irrlichtdiebstähle verwickelt ist, wissen wir leider nicht. Noch nicht. Doch allein die Erkenntnis, dass er hinter alledem steckt, bringt uns schon ein gutes Stück voran. Offenbar plant er eine größere Schurkerei, so viel ist gewiss.«
»Könnt Ihr mir sagen, wer dieser Eisenhand ist? Er und diese Dystariel, die Ihr ausgeschickt hattet, kannten sich offenbar. Eisenhand nannte sie eine Verräterin.«
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