Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
umfingen ihn die Erinnerungen der vergangenen Nacht und trieben ihn auf die Beine. Mühsam öffnete er die Tür. Unter ihm lag der Innenhof der Burg, die heruntergebrannten Feuer erhellten die Gestalten der ruhenden Engel nur schwach. Das Lager schlief. Es war ein Bild des Friedens, doch Avartos wusste, wie zerbrechlich dieser Frieden war. Er selbst hatte ihn vor wenigen Stunden zerstört. Sein Blick glitt über die schlafenden Engel. Viele von ihnen hatten kaum mehr magische Stärke im Leib als ein Schattengnom, und so hatte Avartos’ Macht sie ernsthaft verwunden können. Mochanon und Hadros wachten über die Ruhenden, und abseits der Feuer war der Teufelssohn gegen ein Mauerstück gelehnt in Schlaf gesunken. Seine Hand ruhte auf Silas’ Schwert, das Gesicht hatte er den Sternen zugewandt, und auch er wirkte friedlich und sanft. Ohne ihn hätte so mancher Engel im Feuer der Erinnerungen größere Verletzungen davongetragen, so viel war sicher. Noch einmal fühlte Avartos Nandos Pulsschlag in sich widerklingen, ebenso wie den Drang, den Sohn des Teufels aus den Klauen des Lichts zu reißen. Er fuhr sich über die Augen. Die Klauen des Lichts, was ging ihm da durch den Kopf? Waren es nicht die Klauen der Schatten gewesen, die ihn selbst in den Abgrund gezogen hatten?
Er stieß sich vom Türrahmen ab, ohne zu wissen, wohin er ging. Er war todmüde und erschöpft, und die Stille des Lagers, an der er keinen Anteil hatte, verstärkte seinen Kopfschmerz. Ruhelos lief er durch die zerfallenen Gänge der Burg, die ihn mit ihrer Dämmerung umfingen wie einen Träumenden. Der Klang seiner Schritte erinnerte ihn an jenen Tag, da er diesen Boden erstmals in voller Rüstung betreten hatte. Er war noch ein Kind gewesen, aber er sah seinen Vater vor sich, wie er lächelnd zu ihm herabsah.
Ein Prinz des Lichts , hatte er gesagt und ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Ein Engel höchsten Ranges.
Avartos spürte die Kälte wie damals auf seiner Haut. Ein großartiger Krieger war er, das hatte er vergangene Nacht bewiesen. Jeder Rekrut lernte, sich gegen magische Übergriffe wie diese zu verteidigen, nicht umsonst hatte er seit seiner Jugend seinen Oreymon perfektioniert. Und was tat er? Ließ sich von den Erinnerungen überwältigen, als wäre er noch immer das Kind von damals. Das Bild seines Vaters verblasste in seinen Gedanken. Damals hatte Avartos sein Lächeln voller Stolz erwidert. Er hatte sich unbesiegbar gefühlt. Lange vor dem Angriff der Dämonen war das gewesen. Lange vor dem Feuer und dem Tod und lange vor jenem Tag, da Vater und Sohn die Burg Oreid für immer verlassen hatten.
Der Gestank von Rauch und Blut war allgegenwärtig. Seit damals steckte er in dem Gemäuer, doch als Avartos nun vorwärtsging, roch er auch die Rosen, die einst auf diesen Fluren geblüht hatten. Ihr Duft durchströmte ihn, sie waren schwarz gewesen mit silbernen Sprenkeln. Schwarz wie das Meer. Die Stimme seiner Mutter schmolz die Kälte, die die Erinnerung an seinen Vater gerade neu in ihm entfacht hatte, aber er drängte sie nicht zurück. Er wollte ihr weiter zuhören, ihrer sanften Stimme, die immer schon so viel wärmer gewesen war als die jedes anderen Engels, und er wollte die Strahlen der Sonne auf ihrem Haar sehen, so golden, dass jedes andere Licht dagegen verblasste.
Willst du sein wie die Menschen?
Die Stimme seines Vaters ließ ihn die Fäuste ballen. Verflucht, was war nur los mit ihm? Er durfte den Glanz der Engel nicht verraten für einen Taumel am Rand des Abgrunds! Er fühlte schon, wie das Licht in ihm aufbrach, doch die Kälte drängte das Lachen nicht zurück, das nun durch die Flure strich, geisterhaft und lockend wie ein Ruf aus der Ferne. Avartos wehrte sich gegen den Schauer, der ihm über den Rücken strich, aber er ging dennoch vorwärts, und als er es zuließ, dass der flüsternde Wind ihm die Augen schloss, konnte er sie sehen: Lachende Gesichter in den unversehrten Gängen der Burg, die Sonne über dem Hof, seine Freunde hoch auf den uralten Bäumen, sich selbst auf den Ästen, und er hörte die Stimme, die ihn rief, besorgt, zärtlich, liebevoll. Immer schon hatte sie ihn überall erreicht, ganz gleich, ob er sich in den dunklen Kerkern herumgetrieben hatte oder in den Ställen des Gesindes, und auch jetzt traf sie ihn tief im Inneren und ließ sein Herz schneller schlagen. Er beschleunigte seine Schritte. Blind lief er durch die verfallenen Räume, sah sich von außen, eine halb wahnsinnige Kreatur in
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