Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
über seinen Zügen lag, erinnerte Nando an das Antlitz jenes Engels, den er einst gefürchtet hatte. Er konnte sich vorstellen, dass Avartos sich vor einem erneuten Erlebnis wie in der Ruine seiner Kindheit verwahren wollte, aber der kalte Glanz in den Augen seines Freundes ließ ihn dennoch frösteln, und ihm entging auch nicht die Kluft, die sich erneut zwischen Noemi und Avartos aufgetan hatte wie zum Beginn ihrer Reise. Irgendetwas ging in dem Engel vor, das Nando nicht greifen konnte. Sobald sie die Wüste verlassen hatten, würde er ihn danach fragen.
Hadros’ Blick war ernst, als er die Karawane hinter sich ließ. Mochanon schaute ihm nach, beinahe sorgenvoll. Dann wendete er sein Reittier und setzte sich in schnellem Galopp an die Spitze des Zuges.
Eisiger Wind stob von der Düne herab und schlug Hadros entgegen, als wollte er ihn davon abhalten, sich zu nähern. Aber der Engel verlangsamte seinen Schritt nicht. Mit tief geneigtem Kopf bedeutete er Nando und den anderen, ihm zu folgen, und sie machten sich an den Aufstieg. Immer wieder brach der Sand unter ihnen weg, klebrig wie feuchte Asche blieb er an den Füßen der Cerem’ Dhaj haften, und als sie endlich den Gipfel der Düne erreichten, sah Nando auf der anderen Seite für einen Augenblick nichts als tosende schwarze Schleier. Erst als er sich an das Wirrwarr aus Sand und Staub gewöhnt hatte, erkannte er die weite Ebene unter sich. Seltsam düster war es dort, so als würde es in diesem Bereich der Wüste nie wirklich Tag werden.
»Lhaar Saronhum dhur Mhardram Hedon’ya«, murmelte Hadros. Nando umfasste die Zügel seines Tieres fester. Traum der gleißenden Nacht , hatte der Jäger gesagt. Ziel der Phantasie und Tod der Sehnsuchtsvollen. Er erinnerte sich an diese Worte, die der Wind in der Vision Aeresons geflüstert hatte, und auch wenn er noch immer nicht wusste, was sie bedeuteten, schickten sie nun einen Schauer über seinen Rücken. Noemi zog sich das Tuch enger um den Leib, Kaya verschwand nach einem argwöhnischen Blick auf die tanzenden Schleier in der Geige, und selbst Avartos schaute in die verwunschene Düsternis, als würde er jeden Augenblick ein Schreckensbild erwarten, das mit Getöse daraus hervorbrechen würde.
Als Hadros sich in Bewegung setzte und sie hintereinander die Düne hinabschritten, langsam, um im weichen Sand nicht auszurutschen, brach ein leises Wimmern vor ihnen aus dem Boden. Zuerst dachte Nando, einer Illusion aufgesessen zu sein, als sich kurz darauf Hände aus dem Sand schoben, dicht gefolgt von nackten Frauenkörpern. Ihre Haut schimmerte bronzefarben, die Flügel auf ihren Rücken waren kaum mehr als silbrige Schemen, und ihre Augen waren schwarz wie der Sand, der sie geboren hatte. Ihre Haare jedoch, die sich seidig um ihre Leiber schmiegten, bestanden aus zischelnden Schlangen. In geschmeidigen Bewegungen kamen sie näher. Sie lächelten, aber Nando sah die zuckenden Augen, die unter der Haut ihrer Stirn und ihrer Wangen nur darauf warteten, sich zu öffnen, und er schickte einen Abwehrzauber in seine Faust.
»Kein Zauber der Welt hilft gegen ihr Gift«, raunte Hadros. »Außer einem festen Willen.«
Unbeirrbar trieb er sein Tier voran. Die Frauen sahen zu ihm auf, ihr Lächeln verstärkte sich. Sie streckten die Hände nach ihm aus – und schrien erschrocken auf, als sie ihn berührten. Ein silberner Glanz flackerte über seinen Körper und den seines Tieres und verwandelte ihre Haut in Asche. Wie ein Haloeffekt hüllte die Magie die Gruppe ein und ließ die Frauen zurückweichen. Zorn spiegelte sich auf ihren Gesichtern, aber Hadros würdigte sie keines Blickes.
»Sie werden keinen Kampf mit uns riskieren«, sagte er. »Wir sind nicht ihretwegen hierhergekommen, und es lag nicht in unserer Absicht, sie zu stören. Ihr Zorn wird rasch erlöschen, und ihre Gier hält meiner Macht nicht stand. Uns erwartet etwas … anderes.«
Nando sah zu, wie die Frauen im Sand versanken, und stieß leise die Luft aus. Er zweifelte nicht daran, dass ihnen Gefährlicheres bevorstand als ein Zusammentreffen mit diesen Kreaturen.
Am Fuß der Düne formten sich die Schwaden aus Sand zu verwunschenen Wäldern und Mooren. Phantasiegestalten tauchten aus den Schleiern und strichen Nando durchs Haar, ohne dass er mehr wahrnahm als ihre durchdringende Kälte und den leise wirbelnden Sand. Erst nach einer Weile erkannte er, dass es Kreaturen aus der Geschichte der Engel waren, Helden aus lang vergangener Zeit, und mit
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