Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)

Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)

Titel: Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
Vom Netzwerk:
hatte der Engel geraunt. Orte, an denen Vergangenheit und Zukunft sich treffen, Orte, die kostbar sind und verloren zugleich – Orte, die selbst alte Wesen wie mich verzaubern können.
    Zu gern wollte Nando eines der Hologramme berühren. Sie zeigten ihm fremde Engel in kostbaren Gewändern, prächtige Pferde und Felder aus Blumen, deren Blüten von den Wellen des Meeres davongetragen wurden. Aber er erinnerte sich auch daran, was Mochanon ihm außerdem gesagt hatte, leise und so ernst, dass ihm noch immer ein Schauer über den Rücken strich, als er nun daran dachte.
    Doch Orte dieser Art sind gefährlich, denn ihre Macht ist die Erinnerung meines Volkes. Und diese Kraft vermag zu töten.
    »Ein Fürst der Engel regierte über das Meer und die Felder«, fuhr Urok fort, während sich die erstarrten Erinnerungen durch die Luft bewegten. »Er war stolz und mächtig, ein Vertrauter unserer Königin, und seine Frau war so schön, dass selbst die Sonne in ihrem goldenen Schein dagegen verblasste. Gemeinsam erfüllten sie diesen Ort mit Leben und Licht, und es waren glückliche Jahre, die von der Geburt ihres Sohnes gekrönt wurden. Er hatte die stolzen Züge seines Vaters, doch in seinen Augen lag der sanfte Glanz des Goldes, das auch seine Mutter in sich trug.«
    Unruhig setzte Noemi sich auf, und Nando merkte, dass er den Atem anhielt, als sich ein neuer Riss im Mauerwerk bildete. Eine Gestalt schob sich aus ihm heraus, ein Kind war es, doch Nando beachtete es kaum. Dort, wo Stein und Glas auseinanderbrachen, bröckelte die Farbe von der Mauer, und es zeigte sich, dass die Festung keineswegs rot war, wie er angenommen hatte. Der Sand hatte sie in seine Schleier gehüllt, aber darunter schimmerte blauer Stein – blau wie der Himmel an klaren Tagen, der sich in den Augen des Kindes spiegelte. Ein Engel war es, den Nando nur zu gut kannte, ein Engel, der …
    Avartos’ Hand schloss sich so plötzlich um Uroks Kehle, dass dieser erschrocken aufschrie, und Nando riss die Augen auf, als er sah, wie sich Avartos’ Nägel tief in dessen Fleisch gruben.
    »Zur Hölle«, raunte er, und seine Stimme klang seltsam fremd. »Was tust du?«
    Er hatte den Barden ein ganzes Stück weit emporgehoben. Mit wutverzerrtem Gesicht stand er da, das lange Haar wehte im Wind. Noemi griff nach Nandos Hand, ihre Finger waren eiskalt. Das Meer, von dem Urok gesungen hatte, war schwarz gewesen, doch nun war da nichts mehr als Felder aus Staub. Sie befanden sich in Oreid – der einstigen Festung Kolkrinors und Avartos’ Zuhause aus Kindertagen.
    Urok keuchte, aber seine Worte waren unverständlich. Für einen Moment glaubte Nando, Avartos würde ihm die Kehle zudrücken. Eilig richtete er sich auf, auch Noemi kam auf die Beine. Doch Avartos bemerkte sie nicht. Kurz hielt er Urok noch in der Luft, dann ließ er ihn fallen und wandte sich ab. Sein Gesicht war kreidebleich, als er inmitten der schwebenden Hologramme stand, aber seine Augen waren dunkel wie das Meer in der Geschichte, und ein sehnsüchtiger, verletzlicher Ausdruck glitt über seine Züge, als er die Hand nach dem Kind ausstreckte, das direkt vor ihm schwebte. Er selbst war es, ein lachendes Kind vor unendlich langer Zeit, und als seine Finger das Hologramm berührten, verwandelte es sich in ein bewegtes Bild, das Klänge und Farben und Düfte verströmte. Ein Kinderlachen wehte plötzlich über den Platz, und Nando sah den Schmerz, der über Avartos’ Gesicht strich, als es ihn traf. Wie ein Flügelschlag flog das Lachen seiner Kindheit über die erstarrten Hologramme und verwandelte sie in Erinnerungen aus Farbe und Licht. Für einen Moment war es ein Bild vollendeter Schönheit. Die Bilder spiegelten sich in Avartos’ Augen und ließen sie funkeln, und ein Lächeln glitt über seine Lippen, so hingegeben, als hätte er sich seit ewiger Zeit nach ihnen gesehnt. Nie zuvor hatte Nando seinen Freund so verletzlich gesehen wie in diesem Augenblick.
    Nein , flüsterte Noemi in Gedanken, und es war dieses Wort, das Nandos Faszination zerbrach. Jetzt fühlte er sie auch, die Kälte, die diese Bilder noch im Zaum hielt, und er hörte die ersten Schreie der Engel, die erschrocken vor Avartos zurückwichen. Der Engel atmete nicht, er stand nur da, und als sich ein Hologramm vor seine Augen schob – das Bild einer Frau am offenen Fenster, die sich langsam zu ihm umdrehte –, kam ein Stöhnen über seine Lippen. Im selben Moment zerbrach der letzte Rest der kalten Maske vor seinen Zügen

Weitere Kostenlose Bücher