Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
einer von jenen, die deine Mutter töteten!
Avartos sah den Schrecken in Noemis Augen, ehe er ihn selbst spürte. Sie hatte die Stimme auch gehört, die seit so langer Zeit durch seine Gedanken brach, und sie fühlte die Kälte, die sie in ihm entfachte und in die er sich flüchtete, nun, da sie ihn auf diese Weise anschaute. Sehr lange war es her, seit sie ihn zum letzten Mal so angesehen hatte, so fern, so erschrocken, und er spürte, dass er in diesem Moment nicht vor ihr stand als ihr Gefährte, ihr Mentor, ihr Freund. Mit dieser Kälte im Blick stand er da als ein Krieger des Lichts. Er stand vor ihr als der Mörder ihres Bruders.
Erst als er gegen die Mauer stieß, merkte er, dass er vor ihr zurückgewichen war. Er sah noch, wie ein haltloser Glanz durch ihre Augen ging, und er spürte sie selbst: die Verzweiflung darüber, ihr so nah zu sein und sie dennoch nicht erreichen zu können. Dann riss er sich los und jagte durch die Dämmerung der Ruine, so schnell, dass Wind und Schnee ihm eiskalt entgegenschlugen. Krachend warf er die Tür seiner Kammer zu. Der Ton trieb ihn weiter, unabänderlich stand Noemis Gesicht vor ihm, und er fühlte das Licht in sich spotten, während jeder Schatten ihrem Schweigen Antwort geben wollte.
Seine Hände zitterten, als er nach der Spritze suchte. Er machte sich nicht die Mühe, seinen Arm abzubinden. Mit Gewalt stieß er sie in seine Vene, die Rote Kraft flutete seine Glieder und zwang ihn in die Knie. Verflucht , schoss es ihm durch den Kopf. Wie hatte es so weit kommen können? Er war ein Sohn des Lichts, er kannte seine Stärke, seit Jahrhunderten vertraute er ihr und hatte in ihrem Glanz immer wieder triumphiert. Er musste sich an sie erinnern, durfte nicht hilflos und schwach vor den Bildern seiner Vergangenheit oder den grünen Augen eines Mädchens auf den Knien liegen. Er hatte ein Ziel, zur Hölle noch eins, er durfte sich nicht abbringen lassen von seinem Weg! Er durfte sich nicht bezwingen lassen von den Schatten, die er vernichten wollte!
Das alles dachte er, während sein Herzschlag sich beruhigte und der Kampf in seinem Inneren zum Erliegen kam. Das Licht der Sterne legte sich kühl auf seine Stirn, und er fühlte fast so etwas wie Frieden jenseits des Wachens, das ihn noch umfing. Sein letzter Gedanke jedoch, ehe der Schlaf ihn ergriff, galt Noemis Gesicht. Sie hatte ihn angesehen, als würde er rücklings in die Dunkelheit fallen.
33
Sie erreichten die Düne der Schlangen am Abend des achtzehnten Tages. Im Gegensatz zum übrigen Sand der Wüste war sie schwarz und türmte sich wie ein gewaltiger Gebirgsgürtel in weitem Bogen vor ihnen auf. Sie erlaubte keinen Blick auf das Gebiet, das hinter ihr lag. Erfahrene Wüstenläufer mieden diesen Ort, und wenn man Urok Glauben schenkte, hatte das zahlreiche Gründe. Einer davon, so erzählte er, waren die Damen der Sieben Augen, todbringende Wesen zwischen Engel und Medusa. Ihre Leiber seien vor langer Zeit zu Asche zerfallen, doch noch immer würden sie in der Düne nach einsamen Wanderern gieren.
Nando würdigte den düsteren Gürtel keines Blickes. Gemeinsam mit Avartos und Noemi stand er im Schatten der Düne und schaute zu Mochanon und Hadros hinüber, die sich in einiger Entfernung voneinander verabschiedeten. Die Karawane wartete auf ihren Anführer, nur hin und wieder schauten einige Engel zu ihnen herüber, als würden sie Todgeweihte betrachten.
»So müssen sich die Helden aus den Geschichten gefühlt haben«, murmelte Nando. »Bevor sie in die Fremde gezogen sind, um gefährliche Abenteuer zu bestehen. Früher habe ich sie bewundert, aber jetzt … «
Kaya zog auf seiner Schulter die Arme um den Körper. »Jetzt weißt du, dass sie wohl ganz schön die Hosen voll hatten? Du hast recht, daran ist wenig Heldenhaftes. Aber immerhin hat die Nachwelt nichts davon erfahren.« Erstmals seit einigen Tagen reiste die Dschinniya wieder mit ihm, und er erwiderte ihr Grinsen.
»Wer weiß«, entgegnete er. »Vielleicht sind einfach alle Helden mit zitternden Knien sofort am Anfang der Reise um die Ecke gebracht worden, und nur die Mutigen überlebten.«
Kaya warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Sehr beruhigend. Nun, zumindest einer von uns scheint in diesem Fall keine Probleme zu bekommen.«
Sie warf Avartos einen Blick zu, der ein wenig abseits stand und zu Hadros hinübersah. Seit den Ereignissen in der Burg Oreid hatte er kaum ein Wort mit ihnen gesprochen, und die unergründliche Maske aus Frost, die
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