Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
den Schatten, aber der Spott glitt von ihm ab wie die Kälte, die sich vergebens bemühte, ihn mit sich zu ziehen. Stattdessen rannte er nun, war wieder ein Kind, das gerade gelernt hatte zu fliegen, und sein Lachen hallte durch die finsteren Gänge und verwandelte sie in goldenes Licht. Er öffnete Türen, lief über Treppen, und da war sie endlich, am Ende eines langen Korridors. Sie stand mit ausgebreiteten Armen da, und als sie lachte, flog Avartos auf sie zu. Er fühlte sich leicht, so unendlich leicht, und sie fing ihn auf und ließ ihn höher fliegen, immer höher. Sie warf ihn in die Luft, er fühlte ihre Hände um seinen Leib und lachte lauter, gemeinsam mit ihr, als wären sie unbeschwerte Menschen.
Du bist ein Engel, Avartos!
Die Stimme seines Vaters ließ ihn innehalten. Er riss die Augen auf, gerade noch sah er, wie der Körper seiner Mutter zu Asche zerfiel, und er stürzte auf die Knie, hilflos plötzlich und schwach, als wäre sie wirklich da gewesen und dann verschwunden, ohne ihn noch einmal aufzufangen. Avartos hustete. Er zwang das Licht dazu, ihn auszufüllen, aber der Schmerz verschwand nicht. Stattdessen schlugen die Schatten zurück, zornig krallten sie sich in seine Brust und nahmen ihm den Atem. Keuchend kam er auf die Beine. Er musste an die Luft, hinaus aus diesen Verliesen, aber kaum dass er die Türen aufstieß, durchzuckten ihn wieder Erinnerungen an damals, und nun waren sie nicht länger hell und golden. Er sah seine Kinderhände auf Mauerwerk, blutbesudelt und schmutzig, sah sich über gefallene Engel stolpern, und er taumelte, als wären sie wirklich da.
Jede Träne bringt dich den Schatten näher, die in dir lauern!
Er fuhr sich über die Augen. Eiskalt waren seine Finger, als er die halb zerstörte Tür zu jenem Zimmer öffnete. Auch hier war der Sand in jede Nische vorgedrungen, aber noch immer fiel der Schein des Mondes durch das hohe Fenster, und als er vortrat und der Wind sein Haar ergriff, da sah er für einen Moment das Meer vor sich, schwarz wie die Rosen seiner Mutter. Doch der Wind nahm es mit sich, und zurück blieb nichts als die Felder aus Staub, die Avartos kannte wie seinen eigenen Körper und die er doch niemals mehr seit jenem Morgen betreten hatte, und er sah es vor sich: das Grab, das in ihrer Mitte lag und gleichzeitig in ihm selbst. Zart trafen ihn die Schneeflocken, die plötzlich aus der Weite des Himmels fielen. Er trat näher ans Fenster, so nah, dass ein Schritt genügen würde, um seinen Körper weit unten auf den Steinen zu zerschmettern, und dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Versprechen: Alles konnte enden, die Hitze, die Kälte, die ewige Unruhe, die ihn immer wieder in Gedanken zu diesem Ort zog, als würde sie ihn dazu zwingen wollen, ihn noch einmal zu betreten – ihn, seinen tiefsten Punkt, der ihn verschlingen wollte.
Noch ehe er sich umdrehte, wusste er, wer in diesem Augenblick zu ihm ans Fenster trat. Ihr langes Haar wehte im Wind, der Schnee verfing sich darin, und sie schaute ihn an, unverwandt, als hätte sie hier auf ihn gewartet, als hätte sie gewusst, dass er hierherauf kommen würde – hierher, wo man das Meer sehen konnte und das Grab und die Schönheit der Nacht. Sie sprach kein einziges Wort, doch das Grün ihrer Augen umfing ihn wie eine Umarmung, und für einen Moment, einen stillen, unerschütterlichen Moment, wollte er ihren Blick auf diese Art erwidern. Er wollte ihr das Haar aus der Stirn streichen, ihr die Furcht nehmen, die sein Volk in ihr entfacht hatte, und wiedergutmachen, was das Licht ihr angetan hatte. Er wollte sie lachen hören wie in den Schatten Katnans oder fluchen wie in den Brak’ Az’ghur, als sie gemeinsam geflohen waren. Er wollte den Augenblick zurückholen, den sie zusammen in Aeresons Mauern erlebt hatten, und die Stille empfinden, die sie ihm dort geschenkt hatte – er wollte sie bitten, mit ihm hinauszugehen an jenen Ort, der sein Ende sein konnte oder ein neuer Anfang.
Regungslos standen sie sich gegenüber, es brauchte nur ein Wort, eine Berührung, um die Kluft zwischen ihnen ein für alle Mal zu überwinden, und er spürte erstmals mit aller Deutlichkeit, was er in den vergangenen Wochen fortwährend zurückgedrängt hatte: Er wollte an ihrer Seite sein, immer – für immer. Noemi sah ihn nur an, aber sie würde nicht vor ihm zurückweichen, das wusste er. Kaum mehr als ein Schritt war es, kaum mehr als …
Du wirst ein Diener des Teufels sein, mein Sohn – ein Sklave der Hölle,
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