Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
aus rotem Frost preschte Kolkrinor auf sie zu, doch es war nicht Avartos’ Pfeil, der die Kluft zwischen ihnen unüberwindbar machte. Krachend durchschlug er die Schulter des Engels, Avartos schwankte, als wäre er selbst getroffen worden, und ließ sich wie in Trance von Noemi zum Portal ziehen. Kühl spürte Nando die Farben auf seinem Gesicht, aber er sah den Weißen Krieger noch vor sich, als das Bild bereits erloschen war. Er hatte seinen Sohn angesehen wie einen Verräter, und eines stand außer Zweifel: Dieser Engel würde sie jagen – bis in den Tod.
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Ihr Blut fiel auf die schwarzen Steine Aeresons wie Schnee auf ein Grab. Ihre Füße waren bloß und wund, und als sie sich an der Wand abstützte, um nicht zu fallen, zerriss das grobe Mauerwerk ihr die Haut. Die Kälte des Gebäudes kroch aus jeder Nische, sie eroberte das Kloster zurück und trieb alles Leben hinaus in die Nacht, ganz gleich, ob es einen Herzschlag in sich trug oder nicht.
Der Schein des Mondes traf ihr Gesicht, das Silber stach nach ihren Augen, und der Wind riss an ihren Haaren und strich über ihren nackten Körper, als wollte er ihr die Haut abziehen. Dennoch sog sie ihn in ihre Lunge, nahm jede Nuance wahr, die dieser Verräter mit sich trug, und stellte fest, dass sämtliche Sklaven des Lichts diesen Ort längst verlassen hatten. In die Schatten hatten sie sich begeben, die einen als Jäger, die anderen als Gejagte, und so war es an ihr, allein über die Asche Kar’tas Imnirs zu schreiten, hin zu dem Feuer, das lange schon erloschen war und doch noch immer Glut in sich trug. Selbst der verfluchte Acker stach mit Messerklingen nach ihr, jagte mit jedem Schritt die Kraft des Lichts durch ihre zitternden Glieder und ließ sie taumeln, kaum dass sie die Mauern des Klosters hinter sich gelassen hatte. Mit aller Macht wollte der Glanz der Engel sie in die Knie zwingen, und sie sah sich selbst schwach und verletzlich in diesem Niemandsland, das weiße Haar hinter sich wehend wie ein Schweif aus Sternen.
Der Stich kam so plötzlich, dass sie der Länge nach hinfiel. Ihre Hände und Arme schrammten über den Boden, der Schmerz schoss durch ihre Knie und explodierte in ihrem Schädel, und sie meinte, die Engel lachen zu hören, die sie noch im Tod zurückschleudern wollten in jene Finsternis, aus der sie gekommen war. Sie bebte am ganzen Körper, während die Stimmen der Sklaven durch ihre Adern rasten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Schmerz wie diesen empfunden zu haben, und erstmals, seit sie denken konnte, empfand sie körperliche Pein nicht als köstlich. Sie zwang ihren Leib zum Atmen, wie ein Mensch musste sie ihm geben, was er verlangte, und auch das würde kaum mehr etwas ändern. Bald schon würde dieser verräterische Körper aufgeben und endgültig auf dieser Asche erstarren, diese Maschine aus Blut und Fleisch und Knochen, die sie mit nichts als ihrem Willen aus der verbrannten Ruine Aeresons zurückgeholt hatte. Für einen Moment tauchte ein Gesicht vor ihr auf. Ein schönes Gesicht war es, das trotz aller Härte einen mitfühlenden Glanz in den Augen trug, ein Gesicht, das vor kurzer Zeit noch das eines Jungen gewesen war und sich nun in das Gesicht eines Mannes verwandelt hatte. Nando Teufelssohn. Der Name allein brachte sie dazu, ihre Hände ins Erdreich zu krallen, ungeachtet der Scherben, die sich dabei unter ihre Nägel schoben, als hätte sie Glas zerbrochen und nicht den schwarzen Acker, der von Engelsblut getränkt worden war. Doch nicht allein das Licht ruhte in dieser Erde. Sie hatte die Kräfte der Schatten selbst gerufen, und auch wenn sie nur langsam an den Ort ihres Fluchs zurückkehrten, fühlte sie doch, wie die Nacht die Schärfe des Lichts aus ihren Gliedern zog und sie die Fäuste ballen ließ. Sie würde nicht auf dieser Erde erlöschen und Jahrhunderte warten, ehe ihre Kräfte zu ihr zurückkehrten. Sie hatte andere Pläne – und sie bekam immer, was sie wollte.
So kroch sie vorwärts, den Blick auf das erloschene Feuer gerichtet, zog ihren entkräfteten Leib über die spitzen Steine und den Hass ihrer Feinde und spürte schon, wie ihr Atem versagte, als sie endlich bei der schwarzen Glut ankam. Sie hielt inne, um den Blick in die samtene Dunkelheit zu tauchen. Lindernd legte diese sich auf ihre Lider, und da schob sie die Hände in die Asche, so tief, als würde sie in einem verrotteten Leib nach einem schlagenden Herzen suchen – und sie fand es. Ihre Worte waren lautlos, aber sie
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