Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
der Fremde sich aus dem Kreis und war bereits mehrere Schritte entfernt, als ein Kältehauch durch den Raum ging. Die Menschen fuhren zusammen, ihre Gesichter erstarrten, und kaum dass ihre Herzen versagten, sah Pherodos die Frau, die nun den Raum betrat – er sah sie, ohne sich zu ihr umzudrehen. Ihr Gewand schmiegte sich an ihren Leib wie ein dünner Schleier, ihre nackten Füße liefen über den blutigen Boden, als wäre er ein weiches Laken, und als ihr Haar die Hände der Menschen streifte, wurden diese zu schwarzer, gefrorener Asche. Kymbra , dachte Pherodos düster. Lautlos bist du in der Tat.
Der Fremde war der einzige Mensch, der noch atmete. Er sank auf die Knie, keuchend schaute er zu Kymbra auf, und als sie lächelte, schien es kurz, als würde die Furcht von ihm weichen. Doch gleich darauf packte sie ihn an der Kehle. Mit erstaunlicher Kraft riss sie ihn in die Luft, sein Schrei gellte durch den Raum, aber er wurde vom Krächzen der Krähe zerfetzt, die sich nun mit heftigem Schwingenschlag auf ihn stürzte. Mehrfach traf sie ihn an Rücken und Schultern, tiefe Wunden ließen Blut über seine Haut laufen. Verzweifelt krallte er die Hände in Kymbras Arme, aber sie war wie aus Stein und er fügte ihr keinen Kratzer zu. Sie wartete, bis ihn die Kräfte verließen, und zog ihn ganz nah zu sich heran. Noch immer lächelte sie, doch ihr Atem malte Eisblumen auf seine sterblichen Wangen, und der Fremde stürzte in die Finsternis ihrer Augen, hilflos und ohne Halt. Pherodos fühlte das Pulsen seines Herzschlages, als würde es ihn selbst durchziehen. Lauter wurde es, so laut, dass Ligur schmerzerfüllt aufstöhnte und er selbst sich an einem der Tische festhalten musste, um das Gleichgewicht zu bewahren. Selbst Raar schwankte, ein Umstand, der Pherodos befremdete. Dann verlor sich Kymbras Lächeln. Sie beugte sich vor und küsste den Fremden. Sofort erlosch jede Gegenwehr. Schwarze Adern liefen über seine Lippen und sein Gesicht, Blut rann aus seinem Mundwinkel, aber als die Krähe mit den Flügeln schlug und die Ascheleiber der Menschen um sie her zerstoben, schien er keine Schmerzen mehr zu kennen. Pherodos hörte die Gedanken des Fremden, die Kymbra durchflossen, aber stärker als sie nahm er den Frieden wahr, der sich in diesen Augenblicken auf das Gesicht des Menschen legte.
Langsam löste Kymbra sich von ihm und betrachtete ihn, und er erwiderte ihren Blick. Ein seltsamer Zauber lag auf seinem Gesicht. Ja, er hatte den Tod ersehnt. Nun war er ihm erstmals ganz nah, und Kymbra … Sie betrachtete den Menschen mit seltsam trauriger Stille, als würde sie diese Sehnsucht mit ihm teilen.
Ihr Blick traf Pherodos wie ein Schlag. Er taumelte rückwärts und stieß gegen Ligur, der fluchend auf dem Tisch landete, und noch ehe einer von ihnen wusste, was geschah, riss der Fremde die Faust in die Luft und traf Kymbra an der Schulter. Sie ließ ihn los, Pherodos sah noch, wie grün flackernde Zeichen unter der Haut des Menschen aufleuchteten und er den Kopf in den Nacken warf. Dämonen! , hallte seine Stimme in Pherodos wider. Ihr seid der Abschaum der Welt!
Dann lachte der Kerl auf, hart und klar, und mit einem Wort wie einem Fluch verschwand er in grünem Nebel.
Ligur starrte in einmaliger Einfalt auf die Stelle, wo der Mensch verschwunden war, und Pherodos stampfte darauf zu, wohl wissend, dass er ihn nicht mehr finden würde. »Ein Dämon!«, rief er und zertrümmerte einen der Tische mit seiner Faust. »Verflucht, wieso … «
»Weil er seine Magie gebannt hat, deswegen«, murmelte Ligur düster. »Wir haben uns täuschen lassen wie alberne Menschen.«
Kymbra betrachtete ihn mit einem Blick, der ihn den Kopf neigen ließ. »Er ist bedeutungslos«, raunte sie dann. »Wir wissen, wo wir den Sohn des Teufels finden, und wir werden keine Zeit mehr verlieren. Katnan ist unser Ziel – die Stadt der Zwischenweltler.«
Mit zischendem Schwingenschlag zerriss die Krähe die Stille und landete auf Kymbras Schulter, als sie den Raum verließ. Ligur und Raar folgten ihr, und auch Pherodos wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er den Blutstropfen sah, der auf dem Boden lag – gerade dort, wo Kymbra eben noch gestanden hatte. Langsam bückte er sich und führte die Finger durch den Fleck. Er konnte ihn riechen, diesen metallischen, süßen Duft der Vergänglichkeit, und er spürte die Kraft, die in diesem winzigen Tropfen lag und die etwas in ihm wachrief – etwas, das er noch nicht greifen konnte und das
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