Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
sich Stück für Stück durch die Schatten schob, die er in sich barg. Er hob die Klaue vor seine Augen. Selten hatte er eine Farbe gesehen, die ihn auf eine Weise befriedigte und in rauschhafte Unruhe versetzte wie diese. Kymbras Blut war nicht schwarz wie das Blut aller Dämonen. Es war rot wie das Blut … eines Menschen.
5
Der Innenhof des Alten Klosters war ein Meer aus weißen Blüten. Schneeflockengleich fielen sie aus der Krone des Glutbaums, der seine Äste über die gewundenen Wege breitete, und ein flüsternder Wind vermischte sich mit den Stimmen der Nephilim, die an diesem Ort Zuflucht gefunden hatten.
Nando stand in einem der Torbögen und schaute zu der Malerin hinüber, die in einiger Entfernung den Pinsel über die Leinwand führte. Nun, da sie mit diesem halb skeptischen, halb hingegebenen Ausdruck auf ihr Bild schaute, durchfuhr ihn ein wärmender Schauer. Seit er denken konnte, betrachtete seine Tante ihre fast fertigen Bilder mit diesem Blick, und er dachte an ihr Zimmer im Kloster, das über und über mit Zeichenutensilien zugestellt war. Mit Morpheus’ Hilfe hatte sie sich von Bhroroks Angriff vollständig erholt, und auch wenn sie noch immer bisweilen ungläubig auf die Welt schaute, die sich vor ihr geöffnet hatte, bewegte sie sich bereits mit einer Sicherheit durch die Gassen Katnans, als hätte sie ihr ganzes Leben hier verbracht. Nando hatte sie mitgenommen in die Brak’ Az’ghur, hatte ihr von den Sternen aus Feuer und Eis erzählt, von Antonio und Silas und dem Drachen über Bantoryn, und sie hatte ihm zugehört, nächtelang, und leise gelächelt. Erst als er ihr von seinem Weg berichtet hatte, von Bhalvris und dem gefallenen Engel, den er bezwingen musste, war ein Schatten auf ihr Gesicht gefallen. Sie verbarg ihn in den Winkeln ihrer Augen, aber er hatte dennoch dazu geführt, dass Nando nie wieder über dieses Thema mit ihr gesprochen hatte. Nun jedoch waren es nur noch wenige Stunden bis zu seinem Aufbruch. In aller Heimlichkeit würde er sich am frühen Morgen aus der Stadt schleichen, doch vorher musste sein Schweigen ein Ende finden.
Die Stille des Klosters, die ihn gerade noch beruhigt hatte, lastete nun schwer auf ihm. Er musste sich von Mara verabschieden, aber aus irgendeinem Grund brachte er es nicht über sich, zu ihr zu gehen. Noch immer strich die Luft dieses Ortes sanft über seine Haut und umfing ihn mit dem Klang der Musik, die durch die Krankenzimmer drang und von einer wartenden Stadt erzählte. Nando fühlte ihn deutlich, den Frieden, der ihn an diesem Ort umgab. Und doch hatte er von einem Augenblick zum nächsten keinen Anteil mehr daran. Vielleicht, so ging es ihm durch den Kopf, sah er das alles zum letzten Mal.
Der Wind ließ die Blätter des Baumes flirren, kurz wurde Nando von hellem Licht getroffen und ein Bild flammte in ihm auf, so gestochen scharf, dass es ihm wehtat. Es war eine Stadt aus goldenem Glas hoch über den Dächern Roms, eine Stadt, die ihn unwiderstehlich anzog, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, und er hörte Antonios Stimme in sich widerhallen. Bald schon wirst du stark genug sein, um die größten Gefahren der Schattenwelt meistern zu können. Doch niemals, Nando, wirst du einen Schritt in die Stadt der Engel setzen. Niemals – versprich es mir.
Nando fuhr sich über die Augen. Er hatte keine Wahl. Er musste den Weg gehen, den Antonio für ihn gesehen hatte. Und dieser Weg führte ihn nach Nhor’ Kharadhin. Ein Scherbenlachen durchdrang seine Gedanken. Nando sah die Blütenblätter fallen, auf einmal erschienen sie ihm rot und purpurfarben, und er schwankte, als stünde er noch einmal auf der Planke hoch über den Straßen Katnans oder in einer ganz anderen Dämmerung, die jeden seiner Schritte in die Irre lenken konnte. Eilig wandte er sich ab. Er konnte Mara nicht in diesem Zustand Lebewohl sagen. Doch gerade als er den Hof verlassen wollte, hörte er ihre Stimme.
»Ich sehe alles«, rief sie ihm zu, und das Teufelslachen verstummte. »Auch, dass du nun seit einer geraumen Weile dort herumstehst und es nicht fertigbringst, zu mir herüberzukommen. Hast du Angst vor dem Bild, das ich male? Glaubst du, dass seine Finsternis dich fressen könnte?«
Nando musste lachen, als Mara sich mit spöttischem Grinsen zu ihm umdrehte. Schwarze Farbe klebte an ihrer Wange, und als er einen Blick auf die Leinwand warf, sah er auch dort ihre neue Lieblingsfarbe: Schwarz. Das Bild zeigte eine Wüste unter einem schweren Himmel,
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