Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Jahren erlebt, sie war gut darin, lange hatte sie es in Debatten mit Giovanni geübt. Nando wappnete sich, um auf dem Schlachtfeld der Worte gegen sie bestehen zu können.
»Du musst verrückt sein, wenn du diesen Weg gehst«, sagte sie ernst. »Du, ein junger Mann mit dem Kopf in den Wolken, willst ausziehen, um den Teufel zu besiegen. Das allein wäre bereits der größte Unsinn, den ich jemals gehört habe, aber noch dazu wirst du von Dämonen und Engeln verfolgt und hast ihnen nicht mehr entgegenzusetzen als … « Sie hielt inne, und auf ihr Gesicht glitt ein spitzbübisches Lächeln. »Ja, was, Nando? Mit welcher Waffe steigst du wirklich in die Hölle hinab?«
Nando zog die Brauen zusammen. Diese Sanftheit war ungewöhnlich in Maras Debattierstimme. Für einen Moment meinte er, den Duft von Mohnblumen wahrzunehmen. »Zweiundneunzig Gründe«, fuhr Mara fort. »So viele sind mir eingefallen, um dich von diesem Weg abzubringen. Denn auch wenn ich es nicht gern zugebe: Ich habe Angst um dich. Ja, so ist es: Noch nie im Leben hatte ich solche Angst. Und trotzdem werde ich dir keinen einzigen der Gründe nennen, denn eines weiß ich genau: Manchmal muss man Dinge tun, wenn man sich nicht selbst verlieren will.« Sie schaute auf den Tanz der Blütenblätter wie auf einen vergessenen Traum. »Erinnerst du dich an den Tag, als du nach eurem Unfall aus dem Krankenhaus entlassen wurdest? Ich habe dich abgeholt, weißt du noch?«
Nando nickte. Die Flure des Krankenhauses waren ihm riesig erschienen, seine Schuhsohlen hatten bei jedem Schritt auf dem Linoleum gequietscht, und als er allein auf der Bank im Aufenthaltsraum auf seine Tante gewartet hatte, an die er sich kaum noch erinnerte, war er so erschöpft gewesen wie noch nie. Er hatte schlafen wollen, nur schlafen. Und er hatte das Brennen in seiner Brust nicht mehr ertragen, den Schmerz und die Verzweiflung und die Sehnsucht. Dann hatte es heftig zu gewittern begonnen, und Nando hatte nur noch Angst gehabt, eine heillose Angst vor der Welt da draußen und allem, was dort auf ihn wartete.
»Ich habe nie Kinder gewollt«, fuhr Mara leise fort. »Ich glaubte, dieser Verantwortung nicht gerecht werden zu können, und ich wollte es dir sagen, damals, als ich dich abholte. Ich hielt es für eine gute Idee, das möglichst schnell zu tun. Ich wollte dir erklären, dass es auf Dauer nichts werden würde mit uns, ich hatte tausend Gründe, genauso wie jetzt. Ich kam in den Wartesaal, ich habe dich sofort gesehen. Klein und zusammengesunken hast du dort gesessen, aber still, so still, als würdest du dir wünschen, gar nicht da zu sein. Ich erinnere mich noch genau, wie ich in der Tür stehen blieb und überlegte, ob ich nicht lieber wieder gehen sollte, jetzt gleich, weil mich irgendetwas an diesem Anblick erschütterte … Aber ich tat es nicht, und in dem Moment hast du mich angesehen. Du musstest nichts weiter tun als das, um alle Gründe auszulöschen.«
Nando erinnerte sich daran, wie sie dastand in ihrem abgerissenen Mantel und mit der zerzausten Frisur. Er erinnerte sich an die Härte, die von ihrem Gesicht wich, und an das sanfte Lächeln, und er fühlte wieder die Wärme, die sich in diesem Augenblick in ihm ausgebreitet hatte wie der Gedanke an ein Zuhause.
Mara schüttelte den Kopf. »Seit dem Moment, da wir uns in diesem Wartezimmer angesehen haben, gab es keinen Zweifel mehr für mich. Ich habe dich mitgenommen, und du bist bei mir geblieben, und ich hatte keinen einzigen Grund dafür, kannst du dir das vorstellen? Ich habe es einfach gespürt, so deutlich, dass alles andere unwichtig war.«
Nando musste lächeln. Mara hatte ihm das nie erzählt, und noch immer spiegelte sich die Verwirrung von damals auf ihren Zügen, ebenso wie die Sanftheit ihres Lächelns und ihre Entschlossenheit. Sie holte tief Atem, als das Lächeln von ihren Lippen wich. »Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mir so viel bedeutet wie du«, sagte sie kaum hörbar. »Und ich werde dich nicht gehen lassen, wenn ich die Möglichkeit habe, dich aufzuhalten. Deswegen möchte ich dich fragen: Warum musst du diesen Weg gehen, Nando?«
Er hätte sofort antworten können. Er hätte ihr all das erzählen können, was er sich selbst sagte, doch er wusste, dass nichts davon ihr genügen würde. Es genügte ihm ja selbst nicht. Er schaute hinauf ins flirrende Licht der Baumkrone, saß wieder im Wartesaal des Krankenhauses, ging mit Mara durch das Unwetter, schlief in ihrem klapprigen Auto
Weitere Kostenlose Bücher