Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
vereinzelt lagen menschliche Schädel herum.
»Wie willst du es nennen?«, fragte Nando, nachdem er Mara zur Begrüßung umarmt hatte. »Impressionen von der Sonnenseite des Lebens?«
Sie schnaubte verächtlich. »Die gibt es für niemanden, hast du das noch nicht gelernt? Aber manchmal liegt Farbe unter der Dunkelheit. Man kann sie finden, wenn man lang genug in die Finsternis schaut.«
»Deine Gespräche mit Morpheus bringen dir eine Weisheit nach der anderen«, erwiderte er und lehnte sich an einen Mauervorsprung. »Eines Tages kommst du noch auf die Idee, Kalendersprüche zu verfassen.«
Mara legte den Pinsel auf die Palette. »Morpheus hat Dinge erlebt, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen können. Dinge, die so schrecklich sind, dass viele daran zerbrochen wären. Er hingegen hat durch den Sturz in die Schatten eine neue Stärke in sich gefunden, und heute ist er Morpheus, der Herr der Träume.«
Nando musste lächeln, als er seinen Freund vor sich sah, den Mund zu seinem üblichen spöttischen Grinsen verzogen und in den Augen dieselbe unruhige Flamme, die auch in Maras Blick flackerte. Er wusste, dass sie viel miteinander sprachen, besonders über die Oberwelt, deren Kinder sie für immer bleiben würden. Doch Morpheus hatte sich vor langer Zeit gegen ein Leben unter den Menschen entschieden, und auch Mara würde in den Schatten bleiben müssen, solange Nandos Feinde nach ihr suchten.
»Mir fehlt die Sonne«, sagte sie, als das Licht des Glutbaums über die Leinwand tanzte. »Morpheus sagt, dass das Heimweh nachlassen würde, aber ich glaube nicht daran. Ich vermisse den Wind in den Straßen Roms, das Raunen der Bäume im Park, mir fehlt der Schein des Mondes und das Rauschen des Tibers, genauso wie meine Freunde, meine Bilder und … «
Sie hielt inne, aber an der Art, wie sie den Blick abwandte, wusste Nando, an wen sie dachte. Giovanni war fast verrückt geworden aus Sorge um sie, und als Nando ihm einen Brief von ihr überbracht hatte – er hatte ihn auf die Fußmatte gelegt und sich in die Schatten auf der anderen Straßenseite zurückgezogen – , da hatte er Giovanni weinen sehen, vor Unruhe, Sorge und Erleichterung. Selten hatte Nando seinen alten Freund in einem solchen Zustand erlebt, und nun, da er seine Tante anschaute, wusste er, dass es ihr ähnlich ging. Vielleicht würden die beiden einiges zu besprechen haben, wenn Mara in die Oberwelt zurückkehrte – dann, wenn ihr von Engeln und Dämonen keine Gefahr mehr drohte. Der Ruf einer Krähe durchbrach die Stille, aber ehe Nando dem plötzlichen Gefühl der Gefahr nachgehen konnte, fing er Maras prüfenden Blick auf.
»Du bist nicht grundlos gekommen«, stellte sie fest.
Nando seufzte. Ob das jemals aufhören würde, dass sie ihn durchschaute, als wäre er noch immer der kleine Junge, der verlassen am Grab seiner Eltern stand? Es war, als wüsste sie bereits, was er ihr sagen würde – als hätte sie es schon gewusst, seit er im Torbogen stehen geblieben war.
»Wir haben einen Hinweis auf Hadros gefunden«, sagte er dennoch. »Morgen brechen wir auf.«
Mara schaute auf ihre Wüste, als würde sie etwas darin sehen, das Nando nicht erkennen konnte. »Morgen also. Morgen wirst du dich auf den Weg machen, um ein magisches Schwert zu finden. Du wirst dein Leben dabei aufs Spiel setzen, und dann … « Sie brach ab, doch sie wussten es beide: Dann wartete die Hölle auf ihn.
Sie schaute ihn an. Er konnte die Bitte in ihren Augen sehen, die sie niemals aussprechen würde, und für einen Moment wollte er nichts mehr, als ihr nachzugeben und in dieser Stadt zu bleiben, an diesem Ort zwischen den Welten, der ihn mit Dämmerung umgab und mit Schmutz und Gefahr, aber nicht mit dieser Dunkelheit, die ihn auf seinem Weg erwartete, und dem Lachen aus Scherben und Wüstensand. Eine Melodie ging durch seine Gedanken, und kurz sah er Yrphramar vor sich, vor langer Zeit in der Schwarzen Gasse, die Geige auf seinen Knien. Nando sah seinen alten Freund lächeln, und er wusste es selbst: Die Dunkelheit, die er fürchtete, lag nicht in der Stadt der Engel, nicht im Zwielicht der Schatten oder der Finsternis der Hölle. Sie lag in ihm selbst.
Mara nickte kaum merklich, wie sie es immer tat, wenn sie seine Gedanken erraten hatte, und er fühlte sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen schlagen. Gleich würde sie mit einer Litanei von Argumenten beginnen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Oft genug hatte er das in den vergangenen
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