Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
du.«
Orris lachte leise. »Diesmal hatte ich es verdient. Ich war wirklich unverschämt zu Odinan.«
»Mag sein. Aber manchmal muss man ihn ein bisschen schubsen. Ebenso wie mich«, fügte Niall spitz hinzu. Er zögerte. »Ich wollte dir auch sagen, dass es mir um deinen Falken Leid tut.«
Wie jedes Mal, wenn jemand Pordath erwähnte, spürte Orris, wie er rot wurde und sich sein Herz auf seltsamen Weise zusammenzuziehen schien. Er wünschte, er könnte sich selbst einfach verschwinden lassen, und fragte sich, wie lange das alles wohl noch dauern würde. Dennoch erwiderte er Nialls Blick. »Ich werde mich sicher bald wieder binden«, sagte er so selbstsicher wie möglich. »Und inzwischen kannst du an meiner Stelle diesen Fremden eins verpassen.« Der ältere Mann grinste. »Darauf kannst du dich verlassen.«
Sie standen noch eine Weile schweigend nebeneinander. Dann drehte sich der Eulenmeister um und ging zurück zum Rufstein. Einen Augenblick später folgte Orris ihm. Er würde so lange zusehen, wie er konnte, beschloss er; er konnte immer noch dabei sein, auch wenn er keine Macht hatte. So viel war er den anderen schuldig.
Toinan und die übrigen Magier standen dem Rufstein in einem Halbkreis gegenüber und hatten ihre Stäbe mit den Ceryllen vor sich ausgestreckt. Die sechs Mitglieder der neuen Delegation standen ein paar Schritte entfernt, Rücken an Rücken und eng zusammengedrängt, und zeigten mit ihren Ceryllen vor sich, so dass es wie ein sechszackiger Stern aussah. Und zwischen diesen beiden Gruppen, jener, deren Macht in den Stein fließen würde, und jener, die zu Phelans Dorn transportiert werden sollte, stand Sonel, die blicklos zur Mitte der Halle starrte.
»Fertig, Baden?«, rief sie, und ihre Stimme schien von weit her zu kommen.
»Ja.« Der Eulenmeister sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber stattdessen holte er tief Luft und schloss die Augen.
Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die Halle. Die Magier, die sich um den Stein versammelt hatten, blieben reglos und hatten Orris den Rücken zugewandt, aber Jaryd, der zwischen Alayna und Baden stand, schaute direkt zu ihm hin und wartete. Orris versuchte, tröstlich zu lächeln, aber Jaryd schien das nicht zu bemerkten. Noch geschah nichts. Einer der Diener am anderen Ende der Halle hüstelte nervös. Orris spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken sträubten und ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Und in diesem Augenblick brach lavendelfarbenes Licht aus Toinans Ceryll und begann, in den Rufstein zu fließen. Einen Augenblick später, als hätten sie auf dieses Zeichen gewartet, entsandten auch die anderen Magier ihre schimmernde Macht in den Stein. Unzählige Farben liefen in den großen Kristall und vereinten sich zu einem blendend hellen weißen Licht, das dann wie Sonnenlicht in Sonels Ceryll floss, der irgendwie seine grüne Färbung behielt, obwohl das weiße magische Licht durch ihn hindurch und dann weiter zu den Kristallen strömte, die die Delegationsmitglieder vor sich ausstreckten. Dort jedoch veränderte sich das Licht radikal. Es begegnete zunächst Badens Ceryll und bildete dann ein Sechseck um die sechs Magier, wobei es ihre Farben annahm. Wie die Bänder, die im Frühling beim Aricksfest um den Baum gesponnen wurden, zogen sich die Bänder farbigen Lichts um die Delegation. Badens Orange und Trahns Braun, Ursels Grau und Nialls Weinrot, Alaynas Lila und Jaryds Blau. Schneller und schneller drehten sich diese Bänder, heller und heller wurden sie, bis das Strahlen so gewaltig wurde, dass Orris den Blick abwenden musste. Eine plötzliche Windbö - wer hätte schon sagen können, wo sie herkam? - fegte durch die Große Halle, zerrte an den grünen Umhängen der Meister und Magier und zwang Falken und Eulen, die Flügel zu heben, um auf den Schultern ihrer Magier das Gleichgewicht zu bewahren. Und dann ließ der Wind so abrupt, wie er begonnen hatte, wieder nach, und das Licht verschwand. Im Saal herrschte wieder die relative Dunkelheit normalen Tageslichts, und ehrfürchtiges unsicheres Schweigen breitete sich aus. Langsam, weil seine Augen sich erst an das neue Licht gewöhnen mussten, sah Orris sich um, aber er wusste bereits, was er finden würde. Oder genauer gesagt, was nicht. An der Stelle, wo die Delegationsmitglieder gestanden hatten, war nichts mehr. Überhaupt nichts. Seine Freunde waren weg.
Zuerst war es absolut dunkel, wenn man von dem schwachen blauen Leuchten seines Cerylls einmal absah,
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