Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Cailin merkte, dass sie wieder fühlen und sich bewegen konnte. Aber sie wusste, dass sie sich verändert hatte. Sie spürte Marcrans Präsenz in ihrem Kopf, sie war sich seiner Empfindungen bewusst, sie spürte, dass sie ihre Umgebung nun deutlicher wahrnahm; alles war durch die Wahrnehmung des Falken schärfer und klarer geworden. Sie seufzte tief und wurde wieder von einem Strudel von Emotionen überwältigt. Diesmal waren es ihre eigenen, nicht die des Vogels. Und sie waren ausgesprochen widersprüchlich, kämpften in ihr wie Armeen in einem Krieg in Abborij. Sie war ein Magier. Ob sie es nun wollte oder nicht, sie war ein Magier.
Sie hatte damals geglaubt, dass sie wusste, was das bedeutete, aber sie begriff schnell, dass sie sich geirrt hatte. Zweifellos hatte sie nicht begriffen, dass Marcrans Auftauchen in ihrem Leben der Einsamkeit und dem Kummer ein Ende machen würde, die sie seit dem Tod ihrer Eltern gequält hatten. Er war immer bei ihr, auf ihrer Schulter, in ihrem Kopf. Und obwohl sie immer noch häufig an ihre Eltern dachte und sie ihr schrecklich fehlten, kam sie sich nicht mehr heimatlos und allein vor. Sie gehörte zu Marcran, und er gehörte zu ihr. Er war jetzt ihre Familie.
Inzwischen hatte sie begriffen, wie sehr die Bindung ihr Leben verändert hatte. Sie hatte genug über die Geschichte von Tobyn-Ser gelernt, um zu wissen, dass die Kinder Amarids und die Kinder der Götter seit Amarids Entdeckung der Magie so etwas wie Rivalen gewesen waren. Also hatte sie erwartet, dass die Hüter des Tempels ihre Bindung zweifellos nicht gutheißen, sie aber für ihre Weigerung, sich Amarids Gesetzen zu unterwerfen, loben würden. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass sie Angst vor ihr haben oder sie zwingen würden, sich an die Gesetze des Ordens zu halten.
Linnea, die Älteste der Götter, mit der Cailin in ihren ersten drei Jahren im Tempel nur zwei- oder dreimal zu tun gehabt hatte, begann sie täglich aufzusuchen, angeblich, um Cailins Fortschritte beim Lernen zu überprüfen. Cailin wusste es besser. Ihr fiel auf, wie unruhig die Söhne und Töchter der Götter in ihrer Nähe waren, besonders, wenn sie die Nerven verlor. Selbst die anderen Kinder behandelten sie nun anders als zuvor. Sie waren nicht so ängstlich wie die Erwachsenen, aber sie spielten auch nicht mehr mit ihr. Sie sprachen sogar kaum noch mit ihr, außer um zu fragen, ob sie Marcran einmal halten oder ihn streicheln durften. Anfangs hatte sie das zugelassen, weil sie ihnen einen Gefallen tun wollte. Aber als sie merkte, dass sie sie danach immer noch nicht mitspielen ließen, hatte sie begonnen, sich zu weigern. Sie und Marcran verbrachten mehr und mehr Zeit allein. Aber je mehr sich Cailin isolierte, desto häufiger kam Linnea zu Besuch.
Cailin hatte die Älteste eigentlich ganz gern. Die rundliche Frau behandelte sie freundlich, und anders als die anderen schien sie keine Angst vor ihr zu haben. Aber sie stellte ständig Fragen. Manchmal ging es dabei nur um den Unterricht und was Cailin von den anderen Kindern hielt. Aber oft waren ihre Fragen auch persönlicher. »Erzähl mir von deiner Beziehung zu dem Falken«, sagte sie zum Beispiel. Oder sie sagte: »Hast du schon gelernt, wie du deine Kräfte einsetzen kannst?« Ein paarmal bot sie sogar an, einen Magier zum Tempel zu bringen. »Sie können dir beibringen, wie du die Magie beherrschen kannst«, erklärte sie dann. »Keiner von uns wird dir dabei helfen können.«
Linnea mochte vielleicht so tun, als wäre sie nicht beunruhigt, begriff Cailin, aber die Älteste hatte ebenso viel Angst wie alle anderen.
Tatsächlich hatte Cailin nicht viel unternommen, um ihre Macht zu entwickeln oder auch nur herauszufinden, welche Fähigkeiten sie besaß. Sie war einfach nur froh, Marcran zu haben, und sie misstraute der Magie. Sie hatte das Gefühl, dass es falsch wäre, sie zu benutzen. Erst als die Älteste immer wieder nachfragte, begann Cailin selbst darüber nachzudenken, worin denn nun ihre Macht bestand. Sie war nicht vollkommen sicher, wie es funktionierte. Sie wusste, dass es von Marcran ausging - oder genauer gesagt von ihrer Bindung an den Falken. Aber sie hatte keinen Magierstab. Und sie wusste nicht, ob sie ohne den Kristall überhaupt Zugang zu ihrer Macht haben würde.
Nach mehreren Monaten der Unsicherheit, nachdem sie viele Nächte wach gelegen und darüber nachgedacht hatte, wie es sein würde, über solche Magie zu verfügen, entschloss sich Cailin
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