Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Sofort glitt die Tür zu, und der Heber begann sich zu bewegen. Niemand sagte etwas, und Melyor starrte das polierte Holz der Tür an, versuchte, neutral dreinzuschauen, und schluckte ein- oder zweimal, als die Kabine sich höher bewegte, um ihre Ohren frei zu bekommen.
Nach einiger Zeit spürte sie, wie der Heber langsamer wurde und die Tür aufglitt. Ein weiteres Kontingent von Wachen erwartete sie - wieder waren es sechs Männer -, und sie erkannte ihren Anführer als denjenigen, mit dem sie an diesem Morgen gesprochen hatte.
»Nal-Lord«, sagte er und lächelte sie an, als wären sie alte Freunde. »Der Oberlord ist erfreut, dass du so schnell kommen konntest.«
»Wie hätte ich eine solche Einladung abschlagen können?«, fragte Melyor aalglatt und stieg aus. »Ich muss dem Oberlord ein Kompliment für die makellose Höflichkeit seiner Gardisten machen.«
Der Mann schien ihre Ironie bemerkt zu haben, denn sein Lächeln verschwand, und die Farbe sickerte aus seinem kantigen Gesicht. »Hier entlang, Nal-Lord«, bat er mit einer Geste der linken Hand, die vielleicht ein wenig zittrig ausfiel.
Melyor bedachte ihn mit einem eisigen Blick und rauschte an ihm vorbei. »Ja«, sagte sie über die Schulter hinweg, »ich kenne den Weg.« Sie ging entschlossen den breiten Flur entlang zu Cedrychs Räumen. Als sie sich noch einmal umsah, stellte sie erfreut fest, dass sich der Gardist beeilen musste, um mit ihr Schritt zu halten. Sie lächelte in sich hinein und ging noch ein wenig schneller.
Sechs weitere Gardisten warteten am Ende des Flurs auf sie. In ihrem Hinterkopf fragte sich Melyor, wie viele Männer eigentlich für Cedrych arbeiteten. Es mussten mehrere zehntausend sein; mit einer Armee dieser Größe hätte sie am helllichten Tag in Savils Bezirk einmarschieren können, ohne sich um so etwas wie Verkleidung scheren zu müssen. Sie grinste bei dem Gedanken. Eines Tages, versprach sie sich. Eines Tages.
Sie blieb vor den Männern stehen und warf einen Blick in die Kabine, die sich hinter den Gardisten befand. Sie war über acht Fuß hoch und zwei breit, hätte also leicht auch den kräftigsten von Cedrychs Männern aufnehmen können. Sie war ringsum glänzend schwarz und hatte keine besonderen Kennzeichen bis auf eine Anzeige auf der linken Seite und zwei Lichter über dem Eingang, der Melyor zugewandt war, eines rot und das andere, das gerade leuchtete, blau.
»Bist du vertraut mit dem Waffenprüfer, Nal-Lord?«, fragte einer der Gardisten, ein finster dreinblickender Mann, der ein wenig älter war als die anderen, aber nicht schmächtiger.
Selbstverständlich war sie das, und nicht nur, weil sie schon öfter hier gewesen war. Jeder im Nal wusste von Cedrych und seinem Waffenprüfer. Vor ein paar Jahren war es einem Attentäter gelungen, Sprengstoff in die Räume des Oberlords zu schmuggeln und ihn fünf oder sechs Fuß von Cedrych entfernt zu zünden. Der Mann war selbstverständlich gestorben, aber es wäre ihm beinahe gelungen, Cedrych mit sich zu nehmen: Der Oberlord hatte sein rechtes Auge verloren und Monate gebraucht, um sich von seinen schweren Verletzungen zu erholen. Der Schaden an seinem rechten Bein hatte sich nicht vollständig heilen lassen.
Cedrych hatte auf diverse Arten auf den Vorfall reagiert, einige davon vorhersehbar, andere erschreckend und überraschend. Der Attentäter, ein Schurke, dem man intensive Drogen verabreicht hatte, war von einem abtrünnigen Nal- Lord namens Vanniver geschickt worden, und selbstverständlich hatte Cedrych Vanniver zu sich bringen lassen, noch während er sich von seinen Verletzungen erholte. Aber niemand hätte vorhersehen könne, was der Oberlord als Nächstes tat. Statt den Mann einfach zu töten, hatte Cedrych ihn ausziehen und nackt an den Handgelenken vom Dach seines Palastes hängen lassen. Und das war alles. Vanniver hatte monatelang dort gehangen. Es war Mittsommer, als die Strafe begann, also hatte Vanniver trotz der Anstrengung, des Hungers, des Durstes, der Sommerhitze und der Gewitter noch eine Woche gelebt. Danach war er hängen geblieben. Seine Leiche hatte angefangen zu verfaulen, Aaskrähen hatten sich tagelang von ihm ernährt. Und immer noch war er hängen geblieben. Cedrych hatte verboten, ihn abzuschneiden. Geschwächt von den Elementen gaben die Knochen seiner Handgelenke im folgenden Frühjahr schließlich nach, und sein Skelett fiel auf die Straße und zerbrach in tausend Stücke. Immer noch hielt Cedrych seine Männer davon ab, die
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