Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
dass es sich auch dabei um Tränen handelte. »Das ist die einzige Möglichkeit. Wir haben ihn zu einem Ausgestoßenen unter den Unbehausten gemacht, und nun müsst ihr ... «
Sie brach ab und sah sich verwirrt um.
Auch Orris hatte es gehört: eine zweite Stimme auf dem leichten Wind, der durch den Wald zog.
»Was war das?«, flüsterte der Geist. »Es klang wie -« Aber bevor sie zu Ende sprechen konnte, verschwand sie einfach, so wie eine Kerzenflamme vom plötzlichen Durchzug gelöscht wird. Die Magier standen reglos da und waren unsicher, was sie tun oder sagen sollten. Einen Moment später drehte sich Jaryd zu Trahn und Orris um und sah sie verblüfft an. Aber in diesem Augenblick kehrte auch Rhonwen zurück und wirkte immer noch verwirrt und außerdem erschrocken.
»Was ist los?«, fragte sie entsetzt. »Ich verstehe das nicht.« »Es ist er«, erklang eine andere Stimme, diesmal wie Donner von einem weit entfernten Gewitter. Es war, wie Orris begriff, dieselbe Stimme, die er gehört hatte, bevor Rhonwen verschwunden war.
»Das ist unmöglich«, sagte Rhonwen verzweifelt. Aber in dieser Nacht, zu diesen Zeiten, schien alles möglich zu sein. Denn plötzlich stand eine zweite Gestalt im Wald, die ebenso schimmerte wie Rhonwen, wenn auch in einem Unheil verkündenden Smaragdgrün, das sich so sehr von Rhonwens hellem Blattgrün unterschied wie Blitz von Sternenlicht.
Und inmitten dieses Lichts stand ein eindrucksvoller Mann mit langem, wehendem Bart und durchdringendem Blick. Er hatte einen dunklen Falken auf der Schulter, aber keinen Stab. Denn er hatte, wie Orris wusste, diesen Stab vor zwölf Jahren Jaryd gegeben.
»Eulenmeister!«, keuchte Jaryd. »Wie ist das möglich?« »Es sollte nicht möglich sein«, grollte er. »Das ist das Werk des Verräters.«
Der Verräter. Man hatte Orris so lange Verräter genannt, dass er einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, dass Theron von Sartol sprach.
»Aber wie kann das sein?«
Theron schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er tut irgendetwas. Er zwingt uns nach Amarid.«
Auch andere waren nun da. Die Geister umstanden die sechs Magier in einem Regenbogen von Farben, der wie eine böswillige Parodie der Lichterprozession wirkte. Orris erkannte Peredur, dessen milchweiße Augen schimmerten wie sein Ceryll. Er erkannte auch einen anderen, obwohl er ihn nie lebend gesehen hatte. Dieser Mann war riesenhaft und kräftig, leuchtete wie der Vollmond und stand neben einem hinreißenden Silberwolf.
Phelan, dachte Orris. Das ist der Wolfsmeister.
Es waren Dutzende von ihnen, mehr als Orris je für möglich gehalten hätte. Aber es machte durchaus Sinn. Es waren die unbehausten Geister aus tausend Jahren. Vor ihm standen alle, die unter Therons Fluch gefallen waren. Und noch während sie hier im Wald erschienen, begannen sie auch schon wieder zu verblassen, als würden sie zurück in die Nacht gezerrt.
»Ich weiß nicht, was er getan hat, Adlerweiser«, sagte Theron, und seine Stimme klang schon entfernter als zuvor. »Aber nun hat er tatsächlich meinen Fluch verändert. Er braucht uns für irgendetwas.«
»Könnt ihr gegen ihn ankämpfen?«, fragte Jaryd. Theron schüttelte den Kopf. Er verblasste rasch. Alle verblassten, sogar Rhonwen, die nun nicht mehr heller leuchtete als die anderen.
»Im Augenblick können wir nicht gegen ihn ankämpfen«, sagte der Erste Eulenmeister, und seine Stimme klang wie Wind, der durch kahle Bäume weht. »Aber siehst du nicht, was das bedeutet? Er hat meinen Fluch verändert.«
»Ich verstehe es nicht.«
»Denke nach, Jaryd!«, seufzte der Wind. »Wenn er verändert werden kann, kann man ihn auch brechen! So könnt ihr ihn schlagen. So könnt ihr das Land retten. So könnt ihr uns alle retten! Du musst meinen Fluch aufheben!«
Dann waren sie verschwunden. Nichts wies darauf hin, dass sie je existiert hatten. Das einzige Licht kam von den Ceryllen, die Orris und seine Begleiter bei sich trugen. Die einzigen Geräusche, die sie hörten, waren die Kohlen ihres Feuers, die leise knisterten, und die raschelnden Blätter des Gotteswaldes.
»Den Fluch aufheben«, sagte Jaryd leise.
Cailin sah ihn an, und das Licht ihres goldenen Cerylls glitzerte in ihren Augen. »Ist das wirklich möglich?«
»Mag sein«, antwortete Jaryd grimmig. »Aber dazu bräuchten wir den Rufstein.«
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U m deine Frage zu beantworten: Der Grund, wieso ich dir kaum jemals von Stib-Nal erzählt habe, besteht darin, dass sowohl sein Herrscher, ein
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