Die Chroniken von Araluen - Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja
mit ihm Platz tauschen, wenn du meinst«, sagte Alyss.
»Was glaubst du ist es … das Grauen , meine ich?«
»Irgendein großes Raubtier. Ein Bär vielleicht. Es gibt Bären in dieser Gegend. Nimatsu zufolge gibt es Beweise dafür, dass vor vielen Jahren hier Schneetiger gelebt haben. Vielleicht ist es ein Schneetiger.«
»Man hat das Tier nie gesehen oder gehört. Das klingt für mich nicht nach einem Bären«, meinte Evanlyn.
Alyss warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Und du hast natürlich schon viel Erfahrung mit Bären.«
Da musste Evanlyn grinsen.
»Eines weiß ich jedenfalls«, fuhr Alyss fort. »Es ist kein Dämon von einer anderen Welt. Und jetzt sei lieber still.«
Sie hatten vereinbart, dass Evanlyn sich ausruhte, während Alyss Wache hielt. Sie legte sich auf die unebenen, knotigen Äste und rutschte hin und her, um die bequemste Stellung zu finden. Sie schloss die Augen, aber es dauerte eine Weile, bis sich Schläfrigkeit einstellte. Ihre Nerven waren zu angespannt, während sie auf das Rauschen des Windes in den Bäumen lauschte, auf das weiche Flattern eines Vogels und die anderen zahllosen nicht zu identifizierenden Geräusche von Waldtieren oder Insekten, die jetzt unterwegs waren.
Sie hatte das Gefühl, gerade mal für ein paar Minuten eingenickt zu sein, als Alyss sie weckte.
»Regt sich irgendwas?«, fragte Evanlyn leise.
Alyss schüttelte den Kopf. »Nichts«, wisperte sie. »Das Schwein war bis vor Kurzem wach, dann ist es eingeschla fen.«
Sie spähten durch die Äste nach unten, wo das Schwein angebunden war. Das Ferkel lag schlafend neben dem Baum.
»Sieht ganz friedlich aus«, sagte Evanlyn. »Vielleicht hat es einen Schweinetraum.« Sie kroch zum Rand der Plattform und nahm das aufgerollte Seil. Alyss fasste sie am Arm und hielt sie zurück.
»Was hast du vor?«
Evanlyn wurde rot, was Alyss in dem schwachen Licht allerdings nicht sehen konnte. »Ruf der Natur«, sagte sie knapp. »Ich habe zu oft von meiner Wasserflasche getrunken. Das eingelegte Gemüse hat mich durstig gemacht.« Sie grinste verlegen.
Wortlos nahm Alyss ihr das aufgerollte Seil aus der Hand und legte es zur Seite.
»Du musst es eben aushalten«, sagte sie. »Keine von uns wird vor Tagesanbruch hinunterklettern.«
»Alyss, überleg doch mal. Wenn das Grauen irgendwo in der Nähe wäre, würde dieses Schwein vor Angst quieken und schnauben. Wir haben seit Stunden nichts gehört.«
»Das haben die siebzehn Hasanu auch nicht, die dieses Wesen getötet hat. Drei von ihnen wurden mitten aus einem Lager geholt. Sie sind spurlos verschwunden, während die anderen schliefen, weißt du noch? Evanlyn! Der einzig sichere Ort ist diese Plattform. Und nicht einmal darüber bin ich mir hundertprozentig sicher.«
Evanlyn zögerte. Zugegeben, Nimatsu hatte ihnen einige haarsträubende Geschichten über das Grauen erzählt. Angeblich waren manche ihm zum Opfer gefallen, während sie von Dutzenden von schlafenden Kameraden umgeben waren – und keiner hatte einen Laut gehört.
»Na ja … also gut«, sagte sie gedehnt. Ihr Zögern war nur gespielt. Bei dem Gedanken, dass das Grauen irgendwo in der Nähe war und womöglich um den Baum herumschlich, sträubten sich ihre Nackenhaare. Aber das würde sie Alyss gegenüber niemals zugeben. »Dann leg du dich jetzt hin. Ich halte Wache.«
Alyss musterte sie misstrauisch. »Mach keine Dummheiten, während ich schlafe«, warnte sie die Prinzessin.
Evanlyn schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
Alyss legte sich hin und zog den Mantel um ihre Schultern. Innerhalb von wenigen Minuten klang ihre Atmung tief und gleichmäßig, gelegentlich unterbrochen von leisen Seufzern, wenn sie sich auf ihrem Lager umdrehte, weil vielleicht ein Astknoten ihr Unbequemlichkeit bereitete.
Evanlyn saß gelangweilt und verkrampft da, während der Mond über ihnen weiter aufstieg und schließlich verschwand. Die Vögel- und Tiergeräusche waren verstummt. Jetzt war nur noch der Wind zu hören. Einmal, kurz vor dem Morgengrauen, schien es einen stärkeren Windstoß zu geben. Evanlyn setzte sich aufrecht und sah sich nervös um, kam jedoch zu dem Schluss, dass es wohl nur eine Böe gewesen war. Sie gähnte ausgiebig und die Augenlider fielen ihr zu. Sie fuhr hoch, als ihr klar wurde, dass ihr Kopf zur Seite gefallen und sie beinahe eingenickt wäre. Sie schüttelte energisch den Kopf und atmete tief durch. Der dunkle Umriss des Ferkels war im Schnee zu erkennen, sonst war nichts zu
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