Die Chroniken von Araluen - Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja
sehen.
Sie schob sich bis zum Rand der Plattform und spähte in die Tiefe. Aber auch dort war nichts zu sehen.
Sie gähnte wieder. Eine dünne Schicht Schnee lag auf den Ästen. Sie nahm etwas davon und rieb sie sich über Gesicht und Augen. Ein paar Minuten lang war sie erfrischt und hellwach. Dann sackten Augenlider und Kopf wieder nach unten. Sie riss die Augen auf, gähnte und wünschte sich, sie hätte nicht am Vorabend das ganze Wasser getrunken.
Noch nie in ihrem Leben war sie so froh darüber gewesen, dass der Morgen dämmerte. Das erste graue Licht stahl sich zwischen den Bäumen hindurch, und jetzt konnte sie auch Einzelheiten in ihrer Umgebung erkennen. Bald darauf leuchtete ein rötlicher Schein vom Osten durch das Geäst der Bäume.
Komisch, dachte Evanlyn, wie die Dinge im Tageslicht sofort weniger bedrohlich aussehen.
Alyss rührte sich jetzt auch. Sie rollte zur Seite, setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Irgendetwas passiert?«, fragte sie, obwohl sie natürlich wusste, dass Evanlyn sie dann sicher geweckt hätte.
»Nichts. Wir scheinen die langweiligste Gegend im Wald ausgesucht zu haben. Da war nichts außer Insektengesumme und Vogelzwitschern, und sogar die Vögel haben sich irgendwann gelangweilt und sind schlafen gegangen. Ich denke, wir werden …«
Evanlyn schwieg unvermittelt, denn Alyss hatte sie am Arm gepackt – so fest, dass es wehtat.
»Sieh doch«, sagte sie. »Sieh dir das Ferkel an.«
Evanlyn folgte ihrem Blick und es durchlief sie eiskalt. Der Schnee um das Tier war blutig. Alyss nahm das Kletterseil und ging zum Rand der Plattform. Sie wollte sich schon nach unten abseilen, doch dann hielt sie inne und wich zurück.
»Dort unten …«, flüsterte sie kaum hörbar. »Steh nicht auf!«, warnte sie Evanlyn sofort. »Du könntest hinunterfallen!«
Auf Händen und Knien rutschte Evanlyn zum Rand der Plattform und spähte hinunter. In dem Schnee um ihren Baum herum waren verschiedenen Spuren zu sehen. Ein großes Tier hatte den Stamm wiederholt umkreist. Auf einer Seite war eine Vertiefung im Schnee zu sehen, wo das Tier sich anscheinend hingelegt und sie beobachtet hatte.
»Und du hast wirklich nichts gehört?«, fragte Alyss.
Evanlyn schüttelte den Kopf.
»Nein, gar nichts«, sagte sie, doch dann fiel ihr etwas ein. »Einmal, in den frühen Morgenstunden, spürte ich einen starken Windstoß. Aber das war auch schon alles.« Sie deutete auf den Tierkadaver. »Aber davon habe ich nichts mitbekommen! Und ich schwöre, ich war die ganze Nacht wach.«
Sie zitterte bei dem Gedanken, dass sie in der Nacht fast nach unten geklettert war.
»Meine Güte!«, sagte sie leise. »Und ich wollte da runter. Darauf hätte es vielleicht nur gewartet.«
Alyss nickte. Auch sie hatte einen Kloß im Hals bei dem Gedanken.
Schließlich nahmen sie allen Mut zusammen und kletterten hinunter, um die Spuren im Schnee genauer in Augenschein zu nehmen.
»Sieht nach einer riesigen Katze aus«, stellte Evanlyn fest. Immer wieder blickte sie über die Schulter, während sie die Abdrücke im Schnee untersuchte. Alyss beugte sich über die Vertiefung, wo das Tier gelegen hatte.
»Es muss mindestens vier Schritte lang sein«, überlegte sie. »Ich wünschte, Will wäre hier. Er könnte mehr aus diesen Spuren herauslesen.«
»Ich wünschte auch, er wäre hier«, sagte Evanlyn mit einem Seufzer. Aber sie dachte mehr an die Sicherheit, die Wills Langbogen und seine Pfeile bieten würden. Alyss warf ihr einen schiefen Blick zu. Als ihr klar wurde, dass Evanlyn keinen Hintergedanken gehabt hatte, wich das misstrauische Stirnrunzeln. Sie richtete sich wieder auf und ging hinüber zu dem Ferkel, das steif und kalt dalag. Evanlyn folgte ihr nervös, die Hand auf dem Heft ihres Schwertes. Alyss stieß das Schwein mit einem der Speere an. Es schien von einem einzigen Schlag einer gigantischen Tatze getötet worden zu sein.
» Das Grauen hat es getötet. Aber es wollte seine Beute gar nicht verspeisen«, meinte sie. »Nicht einmal den Kadaver mitnehmen.«
Evanlyn blickte sie besorgt an. »Was bedeutet das?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
» Das Grauen wollte nicht, dass das Ferkel uns durch sein Quieken weckt. Weiter war es an dem Schwein nicht interessiert. Es war nur hinter uns her.«
Siebenundvierzig
D as nächste Mal«, sagte Walt, »kommen wir nicht so einfach davon.« Sie hatten nur sechs Männer in der Schlacht verloren und etwa ein Dutzend waren verwundet.
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