Die Chroniken von Blarnia
Petes Beschützerinstinkt war ja im Grunde bewundernswert, aber leider so fruchtlos wie hirnverbrannt.
Sue ließ sie ein bisschen rangeln, dann schnappte sie sich ein Glas Wasser von dem Tisch zwischen den Betten und schüttete es Pete ins Gesicht. »Genug!«, sagte sie. »Das reicht! Morgen früh gehen wir schnurstracks zum Professor und quetschen ihn über den Schrank aus. Ich will wissen, wer ihn gebaut hat, aus was für einem Holz er ist... alles!«
Ed erbleichte: Was, wenn der Professor von der Feisten Hexe wusste? »Aber, Sue«, sagte er, »am Ende hält er uns für verrückt.«
»Ist mir egal«, sagte Sue. »Dieser Kleiderschrank treibt einen Keil zwischen uns.«
Jetzt war Pete an der Reihe. »Sue«, sagte er, »wir konnten uns doch noch nie leiden.«
Wenn Sue einmal einen Beschluss gefasst hatte, brachte sie nichts mehr ins Wanken - ihr Vorstellungsvermögen war einfach zu beschränkt für eine Kehrtwendung. Und so suchten die Kinder am nächsten Morgen ziemlich verängstigt den Professor auf. Pete, der Mutigste, klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.
»Moment bitte«, hörten sie den Professor sagen. »Herein.«
Pete, Sue, Ed und Loo traten ein. Als Erstes fielen ihnen all die bizarren wie beunruhigenden medizinischen Präparate auf, die im Zimmer herumlagen. Ein brandiger Arm schwebte in einem trüben Konservierungsmittel, ein zweiköpfiges Baby schwamm in einer schmutzigen Glasglocke. Der Professor saß hinter seinem Schreibtisch, telefonierte und spielte dabei mit einer Totenmaske aus Gips. Er deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab. »Ich bin gleich für euch da.« Dann sagte er ins Telefon. »Entschuldigung. Gerade ist ein neuer Schwung Versuchsobjekte hereingekommen. Worüber haben wir gerade gesprochen? Ach ja: Warum wir Medikamente und Therapien an Kindern testen. Das hat sich einfach so ergeben. Einerseits haben die Tierschützer es uns immer schwerer gemacht, mit Tieren zu arbeiten, andererseits stellen sich die Leute wegen ihrer Kinder nicht so an... Nein, solange die Eltern von uns Geld dafür kriegen, haben sie keine Bedenken. Und wie sich herausgestellt hat, sind Kinder viel billiger als Affen oder Kaninchen. Außerdem braucht man die Ergebnisse nicht erst auf eine andere Spezies zu übertragen. Etwas, das einem Affen die Augenlider wegätzt, kann für Menschen durchaus gut sein. Wenn jedoch einem Kind die Lider abfallen... Nun, dann kann man das Medikament nicht auf den Markt bringen. Vielleicht in der Dritten Welt, aber hierzulande würde das Forschungsministerium sofort Zeter und Mordio schreien... Nein, danke. War mir ein Vergnügen. Rufen Sie ruhig wieder an, wenn Sie noch Fragen haben.«
Der Professor legte auf. »Entschuldigt bitte. Ein Reporter von der Times. Eine Menge Leute finden das, was wir hier machen, außerordentlich interessant«, sagte er. »Wir sind in der Wissenschaft führend. Ist das nicht toll?«
Er bemerkte, dass Sue ein langes, seilähnliches Etwas betrachtete, das unter der Decke rund ums Zimmer lief.
»Gefällt’s dir?«, fragte Professor Berke. »Ein getrockneter Bandwurm. Der längste, der je lebend gefangen wurde.« Während die Kinder würgen mussten, führ der Professor fort. »Ich hoffe, ihr verhaltet euch heute ein bisschen kooperativer. Seid ihr gekommen, um euch dafür zu entschuldigen, wie ihr euch gestern beim Frühstück aufgeführt habt? Pete, hast du Frau MacBeth schon dafür um Verzeihung gebeten, dass du sie gebissen hast? Ganz zu schweigen davon, dass du sie als >ekelhafte alte____, die mit Eseln_____< bezeichnet hast.« 3
Sue sah, dass Petes Augen zu funkeln begannen, und ergriff rasch das Wort. »Nein, Herr Professor, wir sind eigentlich wegen etwas anderem hier...« Während Sue die ganze Geschichte ausbreitete, fummelte der Professor nervös mit seinem Stethoskop herum und horchte das Herz einer Schreibtischunterlage, des Telefons und der Sohle von Eds Schuh ab. Als Sue fertig war, hängte er sich die Ohrstöpsel um den Hals l und sagte etwas, das keiner von ihnen erwartet hatte.
»Ed«, verkündete er feierlich, »ich muss dir leider sagen, dass dein Schuh tot ist.«
»Oh nein!«, sagte Ed angewidert.
»Das ist nicht fair! Sie haben schon weitergelesen!«, sagten die anderen Figuren wie aus einem Mund.
Der Professor fuhr fort: »Warum soll Loos Geschichte nicht wahr sein? Sagt sie denn sonst die Wahrheit?«
»J-ja«, sagte Sue unsicher. »Lügen setzt voraus, dass man unterscheiden kann, was wahr ist und was nicht, und das ist
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