Die Chronistin
ihr vorlegte, sondern auf, was sie erlebt hatte: Das war an diesem Tag, dass Mechthild und Griseldis sich nach dem Schweineschlachten im grau-roten Schnee umarmt hatten. Die Buchstaben frästen sich in ihren Kopf, gewannen dort an Macht und trieben Sophia schließlich dazu, das Geheimnis nicht nur mit Dorothea zu teilen.
Am Sonnabend fand das Kapitel statt, die regelmäßige Versammlung der Nonnen, bei dem die Mutter Äbtissin aus dem Märtyrerbuch die Geschichte des Tagesheiligen vortrug, die Mesnerin festlegte, wann die Gebete stattfinden würden, die sie nach den Gezeiten berechnet hatte, und die Schwestern die Möglichkeit hatten, ihre Sünden zu bekennen. Eine Nonne beichtete zitternd und bebend und schamrot im Gesicht, dass ein hitziger Traum ihre Scham verführt habe, zu nässen und ihr Bett zu beschmutzen. Die anderen lauschten mit stiller Häme oder aufgesetzter Gleichgültigkeit.
»Morgen wirst du fasten, dreißig Psalmen singen und nicht an den Altar treten«, verkündete die Äbtissin die Strafe. »Ansonsten rate ich dir, jeden Tag vor dem Schlaf in kaltes Wasser zu steigen.«
Nun, da die erste ihre Sünden gebeichtet hatte, fiel es den anderen leichter, ebenso vorzutreten und ihre Schwächen zu bekennen – die eine hatte in der Vorratskammer genascht, die andere zu viele Kerzen verbraucht, die dritte schließlich während des Gebets laut gelacht.
Als alle wieder zu ihren Plätzen zurückgekehrt waren, trat Sophia vor.
Sie war acht Jahre alt, und eigentlich gehörte es sich nicht, dass die Jüngsten das Wort erhoben. Die Mutter Äbtissin blickte verärgert, aber weil sie einen steifen Nacken hatte und stets sehr lange brauchte, um sich mühselig in eine Richtung zu drehen, vermochte sie nicht zu überprüfen, wem die vorlaute Stimme gehörte. Ehe sie darum zur Schelte für das dreiste Benehmen ansetzen konnte, hatte Sophia bereits ein Vergehen benannt.
»Ich habe gelesen«, bekundete sie laut, »ich habe gelesen, dass Schwester Mechthild und Schwester Griseldis sich nach dem Schweineschlachten im Schnee gewälzt haben, weil die eine nach Berührung gierte und die andere nach einem Stück Brot.«
Die Nonnen staunten mit aufgerissenen Mündern.
Es war nicht auszumachen, wem ihre Neugierde galt – der Geschichte, die Sophia erzählte, oder den seltsamen Wörtern, mit denen sie sie eingeleitet hatte. Dorothea, die im Schlafsaal so gerne zum Raunen bereit war, presste verlegen über die Dreistigkeit der anderen den Mund zusammen und errötete. Schwester Irmingard, die den Mädchen die Schrift beigebracht hatte und die allen alterslos deuchte ob ihres gelblich-weißen, glatten Gesichts wie aus geschmolzenem Wachs, blickte nachdenklich auf das Kind. Sophia suchte nach Anerkennung in ihren Augen, doch die dunklen, schwarzen Falten, die darunter lagen, runzelten sich missbilligend.
Von allen Nonnen stand Schwester Irmingard Sophia am nächsten. Jene hatte die Aufgabe inne, den kleinen Mädchen im Kloster das Schreiben und das Lesen beizubringen, desgleichen die antiken Sprachen, und sie war stets über alle Maßen erstaunt, wie rege Sophias Geist war, wie schnell sie alles erfasste, wie mühelos sie sämtliche Aufgaben erfüllte. Sie war kaum fünf Jahre alt, da las sie flüssig. Sie war kaum sechs, da übersetzte sie lateinische Texte noch beim Lesen ins Deutsche. Sie war kaum sieben, da konnte sie die zwölf Bücher von Vergils Aeneis mit ihren 952 Versen auswendig und alle Psalmen. Irmingard hatte sie dafür stets gelobt und ihr schließlich ob ihrer Wissbegierde und ihrer Klugheit eines Tages den Namen »kleine Sophia« gegeben, indessen alle anderen – vor allem die Mutter Äbtissin – an »Ragnhild« festhielten, wie man sie nach der Geburt getauft hatte. Von da an wollte sie nie anders heißen, und ebenso wenig wollte sie Schwester Irmingard enttäuschen.
Heute aber schien eben das zu geschehen. Es fehlte das Lob in Schwester Irmingards Blick; ihr schmales Lächeln geriet nicht aufmunternd, sondern leidend; ihre Kehle stieß das gequälte, schmerzhafte Hüsteln aus, das ihr seit frühester Jugend zu Eigen war, und Sophia war erleichtert, als sie sich von ihr abund den beiden Übeltäterinnen zuwandte, die eben von Mutter Äbtissin zu ihrer Sünde befragt wurden.
Mechthild leugnete mit knappen Worten die verkündete Untat, als müsste sie mit der Rede so sparen wie mit der Nahrung. Griseldis hingegen, die die Dunkelheit fürchtete, weil dort die Dämonen lauerten und diese Dämonen die
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