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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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kleinste Untat straften und gewiss auch, dass sie sich Streicheln und Küssen und Liebkosen ersehnte, begann zu heulen und zu gestehen. Missmutig verzog Mechthild die Stirn, die andere nicht nur für den schwammigen Körper verachtend, sondern für ihre Feigheit – gleichwohl es eben diese war, die das Geschäft erst besiegelte, von dem ihr hungriger Leib Nutzen trug. Ihre Stirnfalte grub sich noch tiefer, als Mutter Äbtissin die Strafe verkündete – und das war für die eine, nachts in der lichtlosen Kirche zu beten, und für die andere, drei Tage zu fasten. Noch ehe die Schuldigen erklären konnten, ob sie dieses als gnädig oder streng befanden, ward das Kapitel aufgehoben und die starre Sitzordnung in kleine Grüppchen aufgelöst. Dort warf man sich Blicke zu, um das eben Erlebte zu bewerten, versagte sich jedoch Worte, weil diese nur zu auserwählter Stunde gestattet waren.
    Zwei nur wagten zu murmeln.
    »Wie kommt es, kleine Sophia«, fragte Schwester Irmingard leise, »dass du die Untat gelesen hast, anstatt sie bloß gesehen?«
    Immer noch fehlte jede Anerkennung in ihren dunkel umrahmten Augen. Verlegen zuckte Sophia die Schultern, plötzlich nicht mehr sicher, ob sie mit der öffentlichen Anklage den Beweis für ihre Merkfähigkeit nicht übertrieben hätte. Ohne zu antworten, duckte sie sich vor dem fragenden Blick, floh – und lief der erbitterten Mechthild in die Arme, deren Wangenknochen spitzer zu stehen schienen als sonst, wiewohl das auferlegte Fasten noch nicht begonnen hatte.
    »Habe ich dir etwas getan, dass du mich derart bloßstellst?«, zischte sie böse.
    Diesmal flüchtete sich Sophia nicht ins Schweigen. »Ich habe nichts als die Wahrheit gesagt.«
    Sie meinte, was sie sagte. Die Schrift, mit der alles festzuhalten war, betrog niemals.
    »Ha!«, murrte Mechthild verächtlich. »Magst dir vielleicht schlau erscheinen, wenn du meine Geheimnisse ausplauderst. Solltest aber lieber dem nachforschen, was dein Eigenes ist. Ich meine deine Herkunft, von der du nichts weißt, vom Namen deines Vaters, den man dir hier verschweigt, und von seinen Schandtaten, die dein Geschick auf ewig zu einem schäbigen machen.«
    Sophia schrieb es auf.
    Ich weiß nicht, woher ich komme; ich kenne meinen Vater nicht; keiner erzählt mir meine Geschichte.
    Schon lange bevor Mechthild auf diese Wunde eingehackt hatte, war jene Frage rastlos durch ihr Gemüt gewandert, hatte es nach Erinnerungen durchstöbert, nach Hinweisen, wer die kleine Ragnhild von Eistersheim, die manche nun Sophia nannten, dem Kloster anvertraut hatte.
    Sie musste damals ein Säugling gewesen sein, denn sie kannte keine Welt als diese. Sie hatte nie andere Kleidung gesehen als den weißen Ärmelrock aus grober, ungefärbter Schafwolle, das Skapulier, welches über den Schultern getragen wurde, und den schwarzen Schleier. Sie kannte keine anderen Tage als solche, die um drei Uhr in der Nacht mit dem Gottesdienst begannen und bis zum Abend noch sieben Mal zu weiteren Messen oder zum Gebet riefen. Sie vermochte sich nur in jenen Räumen zu orientieren, welche zum Kloster gehörten – dem Refektorium, der Wärmestube, der Kleiderkammer, dem Keller oder dem Schlafsaal.
    Sie sehnte sich in Wahrheit auch gar nicht nach draußen, wo eine gefahrenvolle Welt wartete und Tücken, die den rechtgläubigen Menschen zu Fall bringen wollten. Sie wünschte sich lediglich, ähnliche Geschichten über ihr eigenes Leben aufschreiben zu können, wie die anderen von ihrer Vergangenheit erzählten.
    Mechthild, die hier im Kloster kein anderes Trachten kannte, als ihren immerwährenden Hunger zu stillen, war einst – so erzählte man sich – zur Braut eines hochwohlgeborenen Mannes bestimmt gewesen. Lange Jahre wartete sie auf die Eheschließung. Der Bräutigam aber wollte sie nicht freien, sondern stattdessen im Meer segeln – von der rauen Ostsee angezogen und noch mehr von Abenteuern, die in deren farblos schäumenden Wellen zu suchen waren. Als Walfänger schuftete er weit unter seinem Stand, gab sich als Freund des niedrigen Gesindes, welches zu nichts da ist, als auf hoher See zu ersaufen oder das Gedärm der großen Fische auszuweiden, und blieb irgendwann – sei’s, weil einer der Wale das Schiff gerammt hatte oder weil die nördlichen Krieger ihn überfallen und zerstückelt hatten – hinter dem grauen, nasskalten Horizont verschollen. Bis man sich damit abfand, dass er niemals wiederkehren und seiner Herkunft entsprechen würde, war Mechthild zu

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