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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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zuckten zusammen, aber Sophia vermochte nicht, den Ärger zu bezwingen. Noch während sie gingen, schüttete sie weitere bittere Worte über sie aus: »Man spricht ihr Heilkraft zu, weil sie die Gattin des großen Philippe Auguste war! Ha! Als solche hat er sie nie gewollt – in ihrer Hochzeitsnacht wäre sie fast verblutet und später an ihrem Verbannungsort in Étampes fast verhungert. Und gar mancher Pfaffe, der jetzt gekrochen kommt und ihre Duldsamkeit und Demut und Hingabe an das böse Schicksal rühmt, hätte damals über beides sein segnendes Kreuzzeichen geschlagen. Isambour ist zu alt und zu krank, auf dass sie dem scheußlichen Spiele aus Dummheit, Aberglaube und politischer Berechnung dienen könnte. Seid gewiss: Ich stehe zwischen Euch und ihr!«
    Sie musste enden, weil niemand mehr den Worten lauschte – außer einer. Gret, die Frau aus dem Norden, die Isambour getreulich bewachte, trat neben Sophia und musterte sie, indem sie die schmal geschnittenen Augen weit aufriss.
    »Was ist?«, schnaubte Sophia. »Willst du mir wieder vorwerfen, dass alles, was ich tue, deiner geliebten Königin schlecht bekäme? Hast du Lust, mich wieder über eine Mauer in den Tod zu stoßen?«
    Gret war ihr nie wieder zu nahe gekommen seit jenem unseligen Oktobertag.
    Nun tastete sie nach Sophias Hand, packte sie und drückte sie fest.
    »Ich weiß nicht, warum du dich für sie einsetzt, Sophia... Ragnhild von Eistersheim. Aber fest steht, dass du es tust. Von dieser Stunde an sei mein Fluch von dir genommen.«
    Sie blickte ihr starr ins Gesicht, jedoch nicht lange. Wie Sophia fuhr sie herum, als ein Laut von der kleinen Zelle hinter ihnen tönte. Es geschah nicht laut und schrill und furchterregend wie früher – doch es stand ohne Zweifel fest, dass Isambour ein Geräusch von sich gab, dass sie leise wimmerte.
    Als es Frühling wurde, vermochte Isambour nicht länger zu gehen. Auf dass sie dennoch an warmen, sonnigen Tagen den Klostergarten erreichen konnte, trug Sophia sie mit einer anderen starken Schwester dorthin und setzte sie auf eine der kleinen steinernen Bänke. Ob es der Königinwitwe gefiel, ließ sich nicht ausmachen. Der Blick war blind und leer, die Züge ausdruckslos, nur die Nase hob sich manchmal und schnupperte nach dem Duft der Veilchen, der Krokusse und Osterglocken. Im Kloster von Sophias Kindheit hatte der Garten vor allem nützlichen Zwecken gedient, dem Anbau von Gemüse und Kräutern. Hier verkündete er mit seinem Klee und Gamander, mit jungen Schösslingen, Rosen und Lilien von der Schönheit der Schöpfung, die Gott kraft seines Willens aus dem Nichts hervorgebracht hatte.
    Oft ließ Sophia Isambour alleine hocken, weil sie selbst der Pracht nicht viel abgewinnen konnte. Manchmal jedoch, wenn ihre Finger vom Schreiben ihrer Chronik schmerzten und die Augen tränten, weil sie mit der Zeit ihre Kraft verloren, so genoss sie die milde Luft – und Isambours Schweigen. Es bedrängte sie nicht und forderte nichts. Es stand vor Sophia wie eine Wand ohne Zierrat oder ein Blatt Pergament ohne einen einzigen Buchstaben.
    Verführt von Isambours Sprachlosigkeit begann sie das Schweigen mit Worten zu füllen – wie einst, als Théodore zurück nach Paris gekommen war und sie all ihr Hadern und Hoffen nur Isambour hatte sagen können. Damals hatte sie ihre Hand genommen und solcherart Théodore berührt – heute blieb sie mit großem Abstand sitzen, aber verschwieg nichts, was ihr durch den Kopf ging.
    Sie erzählte von ihrem Leben, von der Kindheit im Kloster, Mechthilds Hunger und Griseldis’ klebriger Scham, von Bernhard von Eistersheim, ihrem gebildeten und später grausam verkrüppelten Vater, von der schrecklichen Tante Bertha und ihrem dreckigen Heim in Lübeck.
    Die Erinnerung glich einem lose zusammengehefteten Buch – oft fehlten Seiten, und sie wusste nicht, ob sie das Gedächtnis nicht manchmal betrog und ihr Dinge vorspielte, die sich nie ereignet hatten. Es hatte nicht gelohnt, sie aufzuschreiben, und auch heute zählte Sophia sie zu dem Unwichtigen – aber da Isambour weder aufmerksam lauschte noch jemals antwortete, deuchte es sie keine Verschwendung, die Erzählungen vor sie hinzuwerfen.
    Pergament war kostbar; man musste sparsam damit umgehen. Isambours stumme Anwesenheit und Gleichgültigkeit aber gab es in überschäumendem Maße, das zu wahllosen, unüberlegten Worten anspornte.
    An einem Tag freilich ward die angenehme Stille unterbrochen. Sophia hörte eine Stimme zu sich

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