Die Chronistin
sprechen, die sich ihr lange Jahre verweigert hatte.
»Warum hast du das getan?«, klang es nörgelnd. »Warum hast du verhindert, dass Königin Isambour das Stift verlässt und solcherart Ruhm und Ehre erfährt? Ich habe davon gehört – wir alle haben es gehört: Dass du den Abgesandten von Blanche die Stirn geboten hast und sie allein von dannen ziehen mussten. Schande über dich, dass du ihr selbst das nicht gönnst!«
Sophia fuhr herum. In den letzten Jahren hatte sie ihre Tochter Cathérine nur von der Ferne betrachtet. Nun sah sie, dass das einst rosige Gesicht aufgeschwemmt war, und unter dem Kinn die Haut war schlaff geworden. Die blauen Augen blickten missgünstig.
»Ich wollte gewiss nicht verhindern, dass Isambour Ehrerbietung erfährt«, gab Sophia ruhig zurück und versuchte, sich zu beherrschen, »aber sieh sie dir doch an: Sie ist alt und schwach und hat sich nie gewünscht, auf dieser Welt zu wandeln. Ich werde nicht erlauben, dass andere sie zu eigenen Zwecken herumzerren und ihr den Frieden rauben.«
Cathérine blieb der Mund offen stehen. Zuerst schien sie ungläubig, dann beschwor sie alten Zorn mühelos herauf.
»Ach was«, zischte sie. »Sie ist eine Heilige. Man sagt, sie habe in all den Jahren der Entbehrung und Demütigung niemals das Gottvertrauen verloren. Sie ist ein Vorbild für uns alle. Was wagst du es, mit deiner schmutzigen Seele, sie gefangen zu halten, auf dass niemand von ihrem gnadenhaften Wirken Nutzen ziehen kann?«
Sophia lachte bitter auf.
»Sieh sie dir doch an!«, wiederholte sie ihre Forderung, nicht länger trachtend, sich vor der Tochter zu verteidigen. »Sie soll Gottvertrauen besitzen? Pah! Sie ist blind und stumm und wahrscheinlich auch taub. Sie ist keine Heilige, sondern eine Schwachsinnige – ganz gleich, was kleingeistige, frömmlerische Menschen wie du sich einzureden suchen. Was sie in Wahrheit will, hat euch doch niemals interessiert.«
»Du bist eine alte, einsame, verbitterte Frau, die nichts mehr vom Leben hat und darum allen anderen das ihrige vergällen will!«
»Ist das alles, was dir einfällt?«, erwiderte Sophia scharf und richtete sich auf. »Mir mein fehlendes Glück vorzuhalten? Ich könnte dir Ähnliches sagen, allerliebste Braut des Herrn – dass du nämlich unmöglich froh werden kannst, solange du Théodore nachjammerst. Das tust du doch! Du bist nur hier, weil er es dir an jenem Oktobertag geraten hat, aber du hast nichts davon, wenn er dich in weiter Ferne dafür lobt! Besser, du wärst in Paris geblieben – bei Blanche oder bei einem Mann.«
Cathérine senkte trotzig den Kopf. »Théodore geht seinen Weg und ich den meinen«, bekundete sie weinerlich.
»Ha!«, lachte Sophia und überließ sich ganz dem Hohn. »So löst sich denn alles in Gottes Wohlgefallen auf. Alle habt ihr euch euer Heil gepachtet! Und selbst Isambour kriegt es doppelt und dreifach zugesprochen, weil sie schlichtweg keine Worte hat, um dem Gerücht zu widersprechen, sie sei eine Auserwählte.«
»Hör auf, über sie zu lästern!«
Sophia wandte sich unwirsch ab. »Es geht ihr gut – und das verdankt sie großteils mir, nicht dir. So lass mir denn das Recht, zumindest zu bemängeln, wie man eine Frau als fromm benennen kann, der der Geist fehlt, um gegen Gott zu sündigen.«
»Ihr habt mir nie etwas gegönnt – niemals!«, heulte Cathérine auf. »Und jetzt macht Ihr mir obendrein die Ehrfurcht vor einer Heiligen madig! Ich werde niemals aufhören, Euch zu hassen!«
Ihre Gestalt war schlaff geworden, die hohe Stimme aber klang jung wie einst. Sophia wünschte sich nichts anderes, als dass sie verstummen möge, und seufzte erleichtert, als Cathérine endlich davonlief.
Kaum aber war sie von ihr befreit, so war da nicht das Gefühl von Erleichterung, ihr entkommen zu sein, sondern der üble, verdorbene Geschmack von Versäumnis und Fehlen.
»Was verführt mich, mit ihr zu schreien?«, fragte sie in Isambours Richtung. »Und wenn selbst Gret vermocht hat, mir Vergebung zu gewähren, warum nicht auch sie?«
Es war noch am gleichen Tag, nachdem Sophia in ihre Zelle zurückgekehrt war, da klopfte es, und auf der Schwelle erschien eine der Schwestern, die sie nicht kannte oder die sie nie wahrgenommen hatte. Die Züge waren faltenlos, die Wimpern ohne Farbe, der Blick wach und zugleich misstrauisch.
»Ihr wünscht?«, fragte Sophia. Im Kloster der Kindheit war es streng verboten gewesen, dass sich die Schwestern in ihren Zellen besuchten. Hier galt
Weitere Kostenlose Bücher