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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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der sie belebte, sondern die Erinnerung, wie jung sie gewesen, als sie ihm erstmals begegnet.
    »Und welchen Nutzen habt Ihr von Eurem Leben?«, fragte sie herausfordernd. »Ihr seid einer der klügsten Menschen Frankreichs und habt Euch doch nie gescheut, wie ein folgsamer Hund vor dem König zu winseln. Nehmt Ihr nicht jetzt schon schnüffelnd die Fährte des Nächsten auf, um Euch auch ihm anzudienen? Tröstet Ihr Euch nicht damit, dass Ihr es seid, der alle Entscheidungen trifft – auch wenn es nur im Geheimen geschieht und niemals für Euch, für Euer Leben, für Euer Glück?«
    »Ihr seid ein missmutiges altes Weib geworden, Sophia!«
    »Oh nein«, stritt sie den Vorwurf ab, »oh nein! Ich war Euch einst viel übler gesinnt als jetzt. Ich kenne solches Leben aus zweiter Hand, und Zufriedenheit hat es mir nicht gebracht. Isambour hat danach gar nicht erst gesucht, hat niemals schnuppernd das Gesicht gehoben, um zu prüfen, aus welcher Richtung der Wind weht und wie man sich jenem am besten entgegenreckt. Ihr Leben mag vermaledeiter sein als unseres – zumindest aber war es immer und ohne Ausnahme ihr Leben. Sie hat alle von sich abprallen lassen. Sie hat nie jemanden benutzt oder missbraucht, um auf dieser Welt zu bestehen. Ich habe versucht, gegen die Gesetze unserer Zeit zu kämpfen. Sie hingegen hat sich ihnen von Anfang an verweigert.«
    »Und darin zollt Ihr ihr Anerkennung?«
    Nachdenklich blickte sie an ihm vorbei. Bis zum Begräbnis des Königs hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, welche Folgen sein Tod für ihr eigenes Leben haben würde. Nun packte sie Widerwille, wenn sie daran dachte, das verstörende Gleichmaß der Tage fortzusetzen – entweder am Hof bei Isambour oder in dem Haus, das so leer geworden war, seit Isidora tot war, Théodore nach Italien abgereist und Cathérine ins Damenstift zu Corbeil eingetreten.
    »Vielleicht... ein wenig...«, murmelte sie. »Ich weiß, dass Ihr Euch nicht gern daran erinnert, doch es gab diesen Tag, da Ihr mir sagtet: ›Manchmal wünsche ich mir einfach zu verstummen.‹ Gleiches gilt heute für mich.«
    Er duckte sich – gleichsam verlegen und bewegt.
    »Es ist nicht wahr«, sagte er leise, »dass mir alle Erinnerungen unlieb sind. Nein, gewiss nicht alle...«
    Sie lächelte schwach, hob ihre Hand, bewegte sie auf sein Gesicht zu. Schon zuckte er zusammen – einen neuerlichen Schlag erwartend, wie bei ihrem letzten Gespräch. Doch sie dachte nicht daran, ihn zu schlagen.
    Mit einem spröden Lächeln streichelte sie gedankenverloren über seine zerknitterte, fleckige Haut. Es war weder verächtlich noch zärtlich.
    Er stand stocksteif.
    »Was werdet Ihr tun?«, fragte er. »Wie sind Eure Pläne?«
    Es blieb ihr keine Zeit zu antworten.
    Schon war von draußen forderndes Klopfen zu hören, und während Sophia noch von ihm forthuschte, auf dass niemand den kurzen Augenblick der Nähe zwischen ihnen würde bezeugen können, trat Blanche in das Gemach, als Königin, nicht länger als Dauphine, in Trauerkleidung, aber entschlossen. Beinahe war der weinerliche, verhärmte, kindliche Gesichtsausdruck von früher gänzlich verschwunden.
    Frère Guérin war der Erste, den sie sah – und da sie ihn suchte, verschwendete sie keine Zeit, das übrige Zimmer abzusuchen oder Isambour zu begrüßen, von der sie wusste, dass sie ohnehin weder sprach noch sonstwie Regung zeigte. Mit einer Hast, die nichts mit einstigem leidenden Zögern zu tun hatte, begann sie das Gespräch.
    »Ihr seid der engste Berater des Königs gewesen – als solchem gebührt Euch die Dankbarkeit aller Franzosen«, setzte sie forsch an. »Doch meinem Gatten habt Ihr es nicht immer leicht gemacht.«
    Frère Guérin schien sie zwar nicht hier erwartet, jedoch gewusst zu haben, dass sie dies zu ihm sagen würde.
    Prompt kam sein Sprüchlein, lange vorbereitet und gut einstudiert.
    »Ich bin bereit, Louis zu dienen, wie ich mich stets dem großen Philippe Auguste beugte.«
    Blanche lächelte, aber ihr Blick war ausdruckslos. »Ihr wisst, dass mein Gatte auf mein Wort hört und mir vertraut«, sagte sie mit leiser Häme, die nicht zu vernehmen er vorgab.
    »So bin ich auch bereit, mich vor Euch zu beugen.«
    Er beließ es nicht bei Worten, sondern vollführte jene Geste, die Sophia kannte – von jener unseligen Nacht, da Philippe Isambour verstoßen und Frère Guérin auf ihn einzuwirken versucht hatte. Er kniete nieder, ein wenig ächzender und schwerfälliger als damals, jedoch mit gleicher

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