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Die Chronolithen

Die Chronolithen

Titel: Die Chronolithen Kostenlos Bücher Online Lesen
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treiben.
    Nichts von alledem ließ Vater und mich näher zusammenrücken. Im Gegenteil. Er verleugnete die Diagnose fast so hartnäckig wie meine Mutter, nur direkter. Er fand wohl immer, er habe unter seiner Würde geheiratet, habe seinen Schwiegereltern in Nashua, New Hampshire, einen Gefallen getan, ihnen die launische und verstockte Tochter abzunehmen. Vielleicht hatte er ja erwartet, die Heirat würde sie bessern. Irrtum. Mutter hatte ihn enttäuscht – und er sie wohl auch. Doch er stellte nach wie vor hohe Anforderungen an sie. Er tadelte sie für jede irrationale Handlung, als sei sie zu moralischen und ethischen Urteilen fähig – was sie durchaus war, aber nur sporadisch. Also büßte die gute Mutter für die Sünden der schlechten. Die schlechte mochte verbittert und garstig sein, die gute konnte verschüchtert und zaghaft sein. Die gute Mutter konnte auf den Zustand der Bußfertigkeit reduziert werden, und Vater vollzog regelmäßig diese alchimistische Wandlung an ihr. Er schrie sie an, schlug sie manchmal, demütigte sie regelmäßig, derweil ich mich in meinem Zimmer verkroch und mir eine Welt vorgaukelte, in der es weder ihn noch die ungebetene Pseudo-Ma gab. Wo die gute Ma und ich ein zufriedenes Leben führten, so wie sie es zumindest einmal gewollt hatte, während mein Vater fortfuhr, sein irrationales Schattenweib an irgendeinem entlegenen Ort zu bekriegen – sagen wir, in einer Gefängniszelle oder in einem Irrenhaus.
    Später, mit sechzehn und nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, aber noch bevor sie in das Heim in Connecticut eingewiesen wurde, wo sie ihre letzten Jahre verbracht hat, da machte Vater mit uns einen Ausflug nach New York City. Er muss wohl geglaubt haben – wie verzweifelt muss er gewesen sein, um nach diesem Strohhalm zu greifen? –, dass ein Urlaub ihr gut tun würde, ihr »den Kopf durchpusten« würde, wie er gerne sagte. Also beluden wir den Wagen, ließen das Öl wechseln und den Tank füllen und machten uns wie eigensinnige Pilger auf den Weg. Mutter bestand darauf, die hintere Sitzbank für sich allein zu haben. Ich saß vorne, als Navigator, und blickte ab und zu über die Schulter, um Mutter anzuflehen, nicht an den Lippen zu pflücken, auf denen sich bereits Blut zeigte.
    Ich habe nur zwei lebhafte Erinnerungen an das Wochenende in New York City.
    Am Samstag besuchten wir die Freiheitsstatue, und mir ist, als sehe ich noch jede einzelne der blanken Stufen vor mir, die wir auf dem Weg zur Spitze erklimmen mussten. Ich erinnere mich an den widersprüchlichen Eindruck von Kleinheit und Größe, als wir oben waren, den Geruch nach Schweiß und heißem Kupfer in der windstillen Juliluft. Beim Anblick von Manhattan scheute Mutter zurück, ein leises Wehklagen auf den Lippen, derweil ich hingerissen zusah, wie die Seemöwen aufs Meer hinunterstießen. Ich nahm als Souvenir ein hohles, handgroßes Messingmodell der Freiheitsstatue mit nach Hause.
    Und ich erinnere mich an den Morgen darauf, den Sonntagmorgen, als meine Mutter das Hotelzimmer verließ, während Vater noch duschte und ich unten im Korridor stand und die Softdrinkmaschine mit 25-Cent-Stücken fütterte. Als ich zurückkam und das Zimmer verwaist fand, bekam ich es mit der Angst, brachte es aber nicht fertig, Vater aus dem Bad zu holen, wohl weil ich noch mehr Angst vor seinen Vorwürfen hatte. Stattdessen schritt ich ein paarmal den roten Läufer im Korridor ab, vorbei an stummen Dienern und Wägelchen mit weißem Bettzeug, bevor ich mit dem Lift ins Foyer fuhr. Ich sah das dunkle Haar meiner Mutter, wie sie das Foyer durch die Drehtür verließ. Ich rief ihr nicht hinterher, weil das ein peinliches Aufsehen erregt hätte, rannte ihr stattdessen nach und hätte fast das Zeitungsregal vor dem Souvenirladen umgerissen. Doch bis ich aus der Drehtür und auf dem Gehsteig war, war sie nicht mehr zu sehen. Der rot gekleidete Pförtner blies auf seiner Pfeife, ich wusste nicht, warum, und dann sah ich sie auf der Bordsteinkante liegen und hörte sie stöhnen, während der Fahrer des Lieferwagens, der sie angefahren hatte (sie hatte beide Beine gebrochen), heraussprang und sich zitternd über sie beugte, die Augen weit aufgerissen, groß wie zwei Vollmonde. Und alles, was ich empfand, war eine brutale Eiseskälte.
     
    Nach dem Wochenende in New York wurde Mutter in das Pflegeheim eingewiesen – das heißt, nachdem ihre Beine wieder geheilt waren (solange Mutter Gips trug, hatten sich die Ärzte des Central

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