Die Chronolithen
darf ich offen zu Ihnen sein?«
»Ist mir lieber als andersherum. Und die allermeisten sagen Regina Lee zu mir.«
»Was habe ich davon, wenn ich diese Leute treffe? Wird es mir helfen, meine Tochter zu finden?«
»Nein, nein, das kann ich nicht versprechen. Wir sind eine Selbsthilfegruppe. Wir helfen uns gegenseitig. Viele Eltern in dieser Situation sind völlig verzweifelt. Manchen hilft es, ihre Gefühle mit anderen teilen zu können, die in derselben Notlage sind. Und jetzt, nehme ich an, gehen bei Ihnen schon die Jalousien runter und Sie denken: ›Mit Händchenhalten ist mir nicht gedient.‹ Mag sein. Aber anderen tut es gut und wir schämen uns nicht dafür.«
»Verstehe.«
»Ja, es gibt natürlich eine gewisse Vernetzung. Viele von uns haben Privatdetektive eingeschaltet, freiberufliche Fahnder und Psychologen. Die Ergebnisse werden verglichen, die Informationen werden ausgetauscht, aber ich halte, offen gesagt, sehr wenig von diesem Aktivismus, und die Resultate geben mir Recht.«
»Mit diesen Leuten«, erwiderte ich, »würde ich gerne reden, allein schon, um aus ihren Misserfolgen zu lernen.«
»Gut, wenn Sie heute Abend zu unserer Versammlung kommen…« Sie gab mir die Adresse einer Kirche. »Solche Gespräche werden sich ganz bestimmt ergeben. Aber wenn ich Sie im Gegenzug um etwas bitten dürfte. Kommen Sie nicht als Skeptiker. Kommen Sie ohne Vorurteile. Über sich selbst, meine ich. Sie machen einen ganz ruhigen, gefassten Eindruck, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, was Sie durchmachen, wie leicht man nach einem Strohhalm greift, wenn ein geliebter Mensch in Gefahr ist. Und machen wir uns nichts vor, Ihre Kaitlin ist in Gefahr.«
»Ich weiß das sehr wohl, Mrs. Sadler.«
»Wissen und Wissen ist nicht immer dasselbe.« Sie blickte über die Schulter, vielleicht auf eine Uhr. »Ich müsste mich jetzt fertigmachen. Darf ich sagen: ›Bis heute Abend‹?«
»Gerne.«
»Ich bete, dass alles zu einem guten Ende kommt, Mr. Warden, was immer sie unternehmen.«
Ich bedankte mich.
Die Gruppe traf sich im Versammlungsraum einer presbyterianischen Kirche; die Gegend war noch vor wenigen Jahren ein ehrbares Arbeiterviertel gewesen und seither unaufhaltsam verarmt. Regina Lee Sadler, die in ihrem geblümten Kleid auf dem Podium herumstolzierte, während das altmodische Bügelmikro vor ihrem Mund tanzte, sah robuster und gut zwanzig Pfund schwerer aus als im Videofenster. Ich fragte mich, ob Regina Lee wohl so eitel war, ihr Interface mit einem Schlankmacherprogramm zu frisieren.
Ich stellte mich nicht vor, drückte mich lediglich im rückwärtigen Teil der Halle herum. Das Prozedere erinnerte stark an das der Anonymen Alkoholiker. Fünf neue Mitglieder stellten sich und ihre Probleme vor. Vier hatten im letzten Monat Kinder an kuinistische oder Hadschzellen verloren. Eine Frau vermisste ihre Tochter schon seit einem Jahr: Sie brauche jetzt einen Ort, wo sie ihren Kummer mit anderen teilen könne… nicht, dass sie die Hoffnung aufgegeben habe, ganz und gar nicht, doch sie sei einfach sehr, sehr müde und denke, wenn sie nur jemanden zum Reden hätte, sei sie vielleicht imstande, einmal eine Nacht durchzuschlafen.
Es gab gedämpften, mitfühlenden Applaus.
Dann stand Regina Lee wieder auf und verlas Neuigkeiten und Aktualisierungen – wiederaufgefundene Kinder, Gerüchte über neue kuinistische Bewegungen im Westen und Süden der USA, eine Lkw-Ladung minderjähriger Pilger, abgefangen an der mexikanischen Grenze. Ich machte mir Notizen.
Dann, als die Zusammenkunft persönlicher wurde und sich die Teilnehmer auf »Workshops« verteilten, um »alternative Strategien« zu diskutieren, schlüpfte ich still und leise aus der Tür.
Ich wäre schnurstracks ins Motel zurückgekehrt, hätte da nicht eine Frau auf den Kirchenstufen gesessen, die eine Zigarette qualmte.
Sie war etwa in meinem Alter, das Gesicht von Kummer gezeichnet, der Ausdruck nachdenklich und wach. Das Haar war kurz und glänzte im Schein der Straßenlaterne. Ihre Augen lagen im Schatten, als sie aufblickte. »Tut mir Leid«, sagte sie automatisch und drückte die Zigarette aus.
Ich winkte ab. Nach einem kürzlich erlassenen Gesetz waren Tabakpräparate rezeptpflichtig und nur noch gegen Vorlage eines Attests zu bekommen, aber ich hielt mich für liberal – ich war schließlich aufgewachsen, als der Konsum von Tabak noch legal gewesen war. »Reicht es?«, fragte sie mit einer Geste zur Kirchtür.
»Für heute ja«, sagte
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