Die Chronolithen
es nach den Fundis geht, ist Kuin der Antichrist; also sprechen wir unsere Gebete und warten auf die Wiederkunft des Herrn. Washington rekrutiert die Kids für einen Krieg, den es vielleicht nie geben wird. Und die Copperheads sagen: Na, wenn wir uns höflich bücken, tut er uns vielleicht nicht ganz so weh. Lässt man das alles mal Revue passieren, ist das nicht gerade ein bunter Reigen von Möglichkeiten. Und dann der ganze Bockmist, den sie in der Musik zu hören kriegen oder in diesen verschlüsselten Chatrooms.«
Leutnant Dudley gab unüberhörbar uns die Schuld, meiner Generation. Im Laufe seiner Arbeit mussten ihm viele Eltern begegnet sein, darunter etliche Nieten. So wie er mich ansah, zählte er mich zu den Letzteren.
Ich sagte: »Was Kaitlin…«
Er fischte eine Akte vom Schreibtisch und schlug sie auf. Was er vorlas, war mir im Kern nicht neu. Insgesamt acht Jugendliche, alle im Juniorkader von Whitmans Club, waren nach einer Tagung nicht wieder nach Hause gekommen. Freunde und Eltern der vermissten Jugendlichen waren eingehend befragt worden… »Nur Sie nicht, Mr. Warden. Ich habe schon auf Sie gewartet.«
»Whit Delahunt hat Ihnen von mir erzählt?«
»Er hat Sie kurz erwähnt, als wir ihn befragt haben, halt, nein, warten Sie. Der Anruf kam von einem ehemaligen FBI-Agenten, Morris Torrance hieß er.«
Schnelle Arbeit. Andererseits war Morris immer sehr fleißig gewesen. »Was hat er Ihnen erzählt?«
»Er bat mich, mit Ihnen zu kooperieren, Mr. Warden. Soweit wie möglich, versteht sich. So, das wär’s dann von meiner Seite. Viel wäre dem nicht hinzuzufügen, es sei denn, Sie haben noch Fragen. Ach, und er hat mich um noch etwas gebeten.«
»Das wäre?«
»Ich soll Ihnen sagen, Sie sollen sich mit ihm in Verbindung setzen. Die Sache mit Kaitlin täte ihm Leid und er könne Ihnen da womöglich helfen.«
DREIZEHN
Vielleicht hätte ich doch die Gruppentherapie von Regina Lee nutzen und meine Angst vor Kuin zugeben sollen – die Angst und die Vorahnung von Leid, die jedes Mal herüberwehte, wenn ich die Augen schloss. Aber das war nicht meine Art. Ich hatte schon früh gelernt, angesichts der Katastrophe den Anschein von Ruhe zu bewahren. Und meine Angst für mich zu behalten – wie ein schmutziges Geheimnis.
Doch ich musste ständig an Kait denken. Für mich war sie immer noch die Kaitlin von Chumphon, fünf Jahre alt und so furchtlos, wie sie neugierig war. Kinder tragen ihr Wesen wie leuchtend bunte Sachen; deshalb sind ihre Lügen so leicht zu durchschauen. Erwachsensein ist die Kunst der Täuschung. Weil ich Kaitlin schon als kleines Kind gekannt habe, weiß ich auch um ihr verwundbares Herz. Warum es umso schmerzlicher war, sich vorzustellen (oder besser nicht vorzustellen), wo Kaitlin jetzt wohl sein mochte, und mit wem. Der elterliche Urtrieb ist der Trieb, die Jungen zu ernähren und zu beschützen. Um ein Kind zu trauern, heißt die eigene Ohnmacht eingestehen. Man kann nicht mehr beschützen, was unter die Erde kommt. Ein Grab kann man bestenfalls mit Grün zudecken.
Ich fand nachts nicht in den Schlaf, starrte aus dem Motelfenster und trank abwechselnd Bier und Cola Light (und musste jede halbe Stunde pinkeln), bis der Schlaf wie eine klebrige Woge über mich hereinbrach. Was ich träumte, war chaotisch und trivial. Das Erwachen im Frühling, unter einem sonnigen, bodenlos blauen Himmel war wie das Erwachen in einem anderen Traum, eine einzige brutale Ironie.
Ich hatte geglaubt, mein Kontakt mit Ashlee Mills habe sich erledigt, aber zehn Tage nach Kaitlins Verschwinden rief sie mein Handy an. Sie klang geschäftsmäßig und kam schnell zur Sache: »Ich bin mit jemandem verabredet«, sagte sie, »er weiß vielleicht etwas über Adam und Kaitlin, aber ich möchte nicht alleine hingehen.«
»Ich habe heute Nachmittag nichts vor«, sagte ich.
»Er arbeitet nachts. Falls Sie wissen wollen, was er macht; es wird Ihnen nicht gefallen.«
»Ist er Zuhälter?«
»Das nicht«, sagte sie. »Ein Dealer, würde ich sagen.«
In der Woche zuvor war ich viel im Internet gewesen, hatte das Phänomen der »Hadsch-Jugend« und der kuinistischen Bewegung recherchiert und mir Zugang zu ihren versteckten Chatrooms verschafft.
Die kuinistische Bewegung gab es natürlich nicht. Ohne einen leibhaftigen Kuin war die Bewegung ein Flickwerk aus utopistischen Ideologien und quasi-religiösen Kulten, die versuchten, einander den Rang abzulaufen. Gemeinsam hatten sie den Gegenstand der
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