Die Chronolithen
wir seien alle noch am Leben, nur Kait sei krank. Sue empfahl, Kait erst in ärztliche Behandlung zu geben, wenn wir wieder in den Vereinigten Staaten waren; zur Zeit würden junge Amerikaner, die ohne Papiere in Mexiko waren, kurzerhand eingesperrt. Der Grenzübergang bei Nogales sei völlig überlaufen. Es habe ein – diesmal falsches – Gerücht von einem bevorstehenden Chronolithen in dieser Stadt gegeben, aber sie werde dafür sorgen, dass uns jemand vom Konsulat über die Grenze bringe. In Tucson würde dann ein Krankenhausplatz reserviert sein.
Ashlee verabreichte Kait ein Breitbandantibiotikum aus der Autoapotheke, und Kait fiel in einen unruhigen Schlaf, der aber den ganzen heißen Nachmittag über anhielt. Hitch und ich wechselten uns am Steuer ab.
Ich dachte über Ashlee nach. Sie hatte gerade ihren Sohn verloren; das glaubte sie zumindest. Es war bemerkenswert, dass sie unter diesen Umständen überhaupt Augen und Ohren hatte für Kaitlin – dass sie unter der Bürde ihres Kummers mit so viel Umsicht handelte. Und Kait reagierte instinktiv auf diese Zuwendung. Sie fühlte sich wohl, wie sie so dalag, mit dem Kopf in Ashlees Schoß.
Ich spürte, dass ich sie liebte, alle beide.
Ich befolgte Ashlees Rat: Ich habe Kaitlin weder damals noch später gefragt, was ihr auf dem Hadsch zugestoßen war.
Ich sollte das vielleicht ein bisschen zurechtrücken. Es gab eine Zeit, da ich bei Kait im Krankenzimmer saß und auf den Arzt und ihr Blutbild wartete, als ich mich nicht zurückhalten konnte. Ich fragte sie nicht unumwunden, was in Portillo passiert war; nur, warum sie dorthin gegangen war – was sie bewogen hatte, von zu Hause wegzugehen und sich mit Adam Mills und seinesgleichen zu verbünden.
Sie drehte das Gesicht in brennender Verlegenheit von mir weg. Ihr Haar fiel über das frische weiße Kopfkissen, und ich sah die feine Naht der Cöchlearoperation, eine ganz schwache, blasse Spur längs der absteigenden Linie des Halses.
»Ich wollte nur, dass sich was ändert.«
Ashlee blieb bei mir in Tucson, während Kait sich erholte.
Wir mieteten ein Motelzimmer und lebten eine Woche lang enthaltsam. Ashlee machte ihren Kummer ganz mit sich alleine aus, oft war ihr gar nichts anzumerken. Es gab Tage, da war sie fast wie früher, lächelte, wenn ich mit einer vollen Tragetasche vom Mexikaner oder Chinesen zurückkam. Wer weiß, vielleicht hegte sie in einem Winkel ihres Herzens die Hoffnung, Adam könnte überlebt haben (darüber sprechen wollte sie jedenfalls nicht, nicht einmal Adams Name durfte fallen).
Aber sie war sehr bedrückt, still. Sie verschlief die schwülen Nachmittage und fand nachts keine Ruhe, saß oft noch vor dem uralten kabelgespeisten Videodisplay, wenn ich schon lange im Bett lag und schlief.
Dennoch waren wir uns beachtlich nahe gekommen. Unsere Schicksalsfäden hatten sich miteinander verschlungen.
Nicht, dass wir über so etwas gesprochen hätten. Wir bemühten uns, nur über Belanglosigkeiten zu reden. Bis auf das eine Mal, als ich das Zimmer verließ, um zu dem 24-Stundenladen an der Ecke zu joggen. Ich fragte sie, ob sie etwas brauche.
»Eine Zigarette«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Und ich will meinen Sohn wiederhaben.«
Kait blieb noch eine knappe Woche länger im Krankenhaus, kam zu Kräften und musste noch eine Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Ich besuchte sie täglich, hielt die Besuche aber kurz, weil ich den Eindruck hatte, dass sie es so lieber mochte.
Dann, kurz vor ihrer Entlassung, erfuhr ich von Kaitlin und ihrem Arzt eine unangenehme Neuigkeit.
Ich wollte Ashlee nicht damit behelligen – jetzt noch nicht. Als ich ins Motelzimmer zurückkam, fand ich sie ein bisschen aufgeräumter, gesprächiger. Ich ging mit ihr zum Dinner, allerdings nicht sehr weit: ins Motelrestaurant. Es gab gewürfelte Rinderlende und Kaffee. Gerahmte Navajoimitationen und Rinderschädel an den Wänden waren entspannend trivial.
Ashlee erzählte (plötzlich schien es ihr ein Bedürfnis zu sein) von ihrer Kindheit und von der Zeit, bevor sie Tucker Kellog geheiratet hatte, Erinnerungen, die nicht aus Geschichten, sondern aus Schnappschüssen bestanden, die sich bei ihr festgesetzt hatten. Ein trockener, windiger Tag in San Diego, als ihre Mutter mit ihr unterwegs war, um Bettwäsche einzukaufen. Ein Schulausflug zu einem Streichelzoo. Ihr erstes Jahr in Minneapolis und wie sehr sie über die Winterstürme gestaunt hatte, über die vom Wind
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