Die Clans von Stratos
daß sie es ohne Hilfe nie fertiggebracht hätte. Alle wußten, daß Maia es gewesen war, deren Arme nachgegeben hatten, als ein Ziegel zerbrochen war, daß sie losgelassen und Leie daraufhin in einem Gewirr von Farbe, Spurenstaub und Zementbröseln abgestürzt war.
Nachdem sie stoisch ihre Strafe über sich hatte ergehen lassen, brachte Leie das Thema nie wieder zur Sprache, nicht einmal unter vier Augen. Es reichte, daß jeder Bescheid wußte.
Verbissen machte Maia weiter und ignorierte den Schmerz. Renna, dachte sie, Renna, ich komme…
Der provisorische Greifhaken erreichte jetzt am höchsten Punkt seiner Laufbahn gerade eben die Balustrade. Doch frustrierenderweise wollte er den vorspringenden Rand nicht überwinden, obwohl er mehrmals hörbar dagegen stieß. Maia versuchte, ihre Angel so zu drehen, daß das Seil im oberen Teil der Bewegung näher an der Wand schwang, aber die Wölbung der Zitadelle machte ihr Vorhaben rasch zunichte.
Offenbar war die Idee ausführbar. Irgendeine Kombination von Drehungen und Beschleunigungen würde funktionieren. Wenn sie sich die Zeit nahm und ein paar Abende nacheinander übte…
»Nein!« flüsterte sie. »Es muß heute klappen!«
Noch zweimal streifte der Haken den Balkon mit einem leisen, schabenden Geräusch. Es würde nicht mehr lange dauern, ehe sie aufgeben mußte.
Noch ein Schaben. Dann ging der Haken glatt vorbei.
Das war’s, dachte sie und wollte sich schon geschlagen geben. Ich muß mich ausruhen. Vielleicht versuche ich es in ein paar Stunden noch einmal.
Ihre Schultern wurden taub, und resigniert verlangsamte sie die rhythmischen Pendelbewegungen, um das Seil langsam zur Ruhe kommen zu lassen. Mit dem nächsten Schwung verfehlte das Bündel die Höhe der Balustrade um Haaresbreite. Bei dem darauffolgenden war der höchste Punkt noch ein Stück tiefer.
Im nächsten Zyklus hielt der Haken noch einmal inne… gerade hoch genug, daß jemand sich rasch über die Balustrade beugen und ihn mit einem raschen Handgriff hätte packen können.
Ihre Verblüffung war unbeschreiblich. Völlig ausgepumpt, vor Kälte zitternd, konnte sie einen Moment lang nur in ihrer Steinnische liegenbleiben und auf die rauhe Wand der Zitadelle hinausstarren, hinauf zu einer dunklen Silhouette, die sich vorbeugte, Maias Seil ergriff, und dabei einen Teil der Winterkonstellationen verdeckte.
Maias erster Gedanke war, daß Tizbe oder die Wächterinnen etwas gehört, nachgeforscht und sie nun auf frischer Tat ertappt hatten. Gleich würden sie kommen, ihr sämtliche Werkzeuge, Kisten, ja sogar die Vorhänge und Decken, aus denen sie das Seil geflochten hatte, wegnehmen und sie so noch endgültiger isolieren denn je zuvor. Doch dann merkte sie, daß die Gestalt auf der Loggia stumm blieb und keine Verstärkung herbeirief, wie man es von einer der Wärterinnen erwartet hätte. Statt dessen begann sie, verstohlene Handzeichen zu geben. Im Dunkeln konnte Maia sie nicht recht erkennen, aber eines wurde ihr klar: Die Person, die ihr dort oben zuwinkte, war genauso daran interessiert, daß niemand sie hörte, wie Maia selbst.
War es Renna? Hoffnung flammte auf, gefolgt von Verwirrung. Die Zelle ihrer Freundin lag ein Stück entfernt und weiter unten. Es sei denn, ihre Mitgefangene hatte in letzter Minute einen einfallsreichen Plan entwickelt…
Die Schattengestalt bewegte sich rasch an der Balustrade entlang nach Westen und schlang unterwegs Maias Seil um ein paar Säulen. Als sie direkt über Maias Kopf angekommen war, bedeutete die Silhouette ihr mit ein paar Handbewegungen, zu warten, und verschwand. Kurz darauf kehrte sie zurück, und dann schlängelte sich etwas neben dem handgeflochtenen Seil zu Maia herab.
Aha, dachte Maia. Ihr hat meine Handarbeit wohl nicht gefallen. Na gut, dann benutze ich eben das gekaufte. Ist mir doch egal.
Genaugenommen war Maia erleichtert. Sie zögerte und überlegte, ob sie in ihre Zelle zurückklettern sollte, um… ja, wozu? Da unten lagen nur vier Bücher und ein Spiel des Lebens, und beides bedeutete Maia nicht viel. Abgesehen von dem Sextanten, den sie am Handgelenk trug, war sie frei von jeder Tyrannei des Besitzes.
Nachdem sie sich das neue Seil unter die Schultern gebunden hatte, schob sich Maia Stück für Stück vorwärts, bis fast ihr gesamtes Gewicht an dem gespannten Strick hing. In diesem Moment schoß ihr plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß es sich um eine Falle handeln konnte. Vielleicht spielte Tizbe Katz und Maus mit ihr,
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